Linder liest

Der Anti-Cyborg

Unser Kolumnist stemmt sich entschieden gegen das Streben nach Vollkommenheit. Stattdessen feiert er den Irrtum.
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Autor: Lukas Linder
Donnerstag, 10. April 2025

Wissen Sie, was ein Morning Shed ist? Es ist ein moderner Jungbrunnen. Erfunden von den Pionieren unserer Zeit: den Influencern. Immer schon haben sich Genies dadurch ausgezeichnet, dass sie gegen den Strom geschwommen sind und fundamentale Wahrheiten angezweifelt haben. Ich erinnere an Galileo Galilei, an Giordano Bruno. Oder eben an Asthon Hall.

Dieser aufgeweckte Bursche pflegt sich des Nachts ein Isolierband über den Mund zu kleben, um nur durch die Nase zu atmen, was bekanntlich gesünder ist und den Alterungsprozess aufhält. Für diese avantgardistische Aktion erhält Asthon gerade viel Häme im Netz. Als bref-Influencer habe ich seine Methode jedoch ausprobiert und kann bestätigen: bis auf die Erstickungsanfälle fühle ich mich tatsächlich enorm verjüngt.

Das Blut zirkuliert wieder in meinem System, weshalb ich wieder in der Lage bin, etwas anderes zu lesen als die Ergebnisse der letzten Lottoziehung. So bin ich etwa auf «Watson» auf die interessante These gestossen, die hervorragend mit Asthon Halls Schlafritual harmoniert: Der Übermensch ist zurück.

Wir erinnern uns. Der Übermensch, das war Friedrich Nietzsches Antwort auf das Ende der göttlichen Weltordnung. Wenn es keinen Gott gibt, muss der Mensch an seine Stelle treten und über sich hinauswachsen. Bekanntlich hat das dem Menschen nicht besonders gut getan, und in den letzten Jahren und Jahrzehnten hatte der Übermensch keine erfreuliche Presse.

Das soll sich jetzt ändern. Wie Philipp Löpfe in seinem schlauen «Watson»-Artikel schreibt, haben wir die Wiederkehr von Nietzsches feuchtem Traum Broligarchen wie Elon Musk oder dem Finanz- und Tech-Unternehmer Bryan Johnson zu verdanken. Letzterer will ewig leben, wofür er täglich 100 Pillen schluckt, nach elf keine Nahrung mehr zu sich nimmt und grundsätzlich allein schläft – ob mit oder ohne Morning Shed ist nicht bekannt.

Elon Musk wiederum träumt vom Cyborg, also der Kombination von Mensch und Maschine. Dafür bastelt er an einem Chip, der, ins Gehirn implantiert, die menschliche Intelligenz um ein Vielfaches potenziert. Bald wird niemand mehr zur Schule gehen müssen, weil wir alle bereits schlau genug sein werden, um uns den wirklich wichtigen Dingen wie Pillenschlucken, Blutinfusionen und anderen Selbstoptimierungsstrategien widmen zu können.

Wenn ich so etwas lese, denke ich, dass mir Perfektion immer schon suspekt gewesen ist. Bereits in der Schule war mir alles Exakte ein Gräuel. Ich habe die Mathematikaufgaben absichtlich falsch gelöst, um auf ihren unmenschlichen Charakter hinzuweisen.

Im Ernst. Ich glaube, der Mensch ist nirgendwo besser zu greifen als im Irrtum. Dort, wo er sich auch selbst widerspricht, wodurch überhaupt erst andere Meinungen möglich werden: ein Gespräch. Eine reale Situation. Wir haben es hier mit einer zugewandten Menschlichkeit zu tun, die vielleicht niemand besser verkörpert hat als der kürzlich verstorbene Peter Bichsel.

Er war der absolute Anti-Cyborg. In seinem schönen Nachruf in der «WOZ» bezeichnet Beat Mazenauer Bichsels Haltung als «elementare Beweglichkeit». Eine Beweglichkeit, die gerade als Gegenposition zum grassierenden Selbstoptimierungswahn besonders nötig scheint. Wer letzterem huldigt, will vollkommen werden, schafft es aber nur zur Perfektion.

Doch die ist nicht dasselbe wie Vollkommenheit. Vielmehr bedeutet sie oft die stumpfsinnige Reduktion auf eine einzige Sache. Es ist diese Leere, der man in den kurzen Filmen von Asthon Hall und seinen Kollegen begegnet. Influencer sind natürlich ein geeignetes Opfer für unsere Häme. Doch geht das Problem viel tiefer, wenn schon einflussreiche Milliardäre wie Elon Musk die Menschheit als Material für die zukünftige Cyborg-Produktion betrachten. Dem muss man sich entschieden entgegenstemmen. Am besten mit freiem Mund.

Lukas Linder begann seine Schreibkarriere als Journalist, heute ist er Autor von Theaterstücken und Romanen. Für diese Kolumne kehrt er zu seinen Wurzeln zurück und schreibt über Gelesenes aus dem Blätterwald. Linder lebt in Polen und der Schweiz.

Mehr von Linder gibts in seinem neuen Buch «Charly Broms Dilemma». Ende August im Kein & Aber-Verlag erschienen, handelt es von einem Todesfall, der den Protagonisten in die Vergangenheit zurückführt, zu den Geheimnissen seiner Familie.

  • Nach der Befreiung

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