In der Debatte um die Migrationspolitik wird seit Monaten mit harten Bandagen gekämpft. Während die Befürworter einer liberalen Einwanderungspolitik vor einer «Festung Europa» warnen, sieht man sich auf der anderen Seite von einer historisch beispiellosen Invasion durch das «Fremde» bedroht. Dieser oftmals «rückwärtsgewandt und verroht» geführten Debatte will der italienische Demograf Massimo Livi Bacci mit historischen Fakten beikommen. Gelingt ihm das?
Migration, so Livi Bacci, ist kein historischer Sonderfall. Seit die Menschen vor ungefähr 9000 Jahren in mehreren Wellen Europa besiedelten, gehören Wanderbewegungen zur geschichtlichen Normalität: «Es ist diese tief im Menschen verwurzelte Eigenschaft, die das Überleben der Jäger und Sammler, die Verbreitung der menschlichen Spezies über die Kontinente und die erste Globalisierung im 19. Jahrhundert ermöglicht hat», heisst es im Buch.
Livi Bacci unterscheidet in der Neuzeit mehrere Migrationszyklen: Während Europa bis ins 15. Jahrhundert vor allem das Ziel von Einwanderern war, wurde es mit der Entdeckung Amerikas zum Auswanderungskontinent. Millionen von Europäern fanden bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts den Weg nach Übersee. Ein starkes demografisches Wachstum, erhöhte landwirtschaftliche Produktivität und die Entstehung einer verarmten Industriearbeiterschaft sorgten ab Mitte des 19.Jahrhunderts für eine eigentliche Massenemigration in die Neue Welt.
Armut und Hunger, seltener auch Abenteuerlust, waren der Motor für die Scharen von Auswanderern, die die beschwerliche Reise auf sich nahmen. Migration, so Livi Bacci, bedeutet deshalb immer auch eine Selektion: Das Wagnis gehen fast nur jene ein, die in besonderem Mass motiviert sind, ihre Lebensumstände zu verbessern. Nicht zuletzt deshalb wurde die europäische Migration nach Übersee zur Erfolgsgeschichte.
Typisch für diese grosse Auswanderungswelle war auch, dass sie nahezu ohne Einmischung der Regierungen erfolgte. Auch wenn es in der Vergangenheit vereinzelt staatlich gelenkte Migration gab, ist Migrationspolitik vor allem ein Phänomen des 20. Jahrhunderts. Mit dem amerikanischen Gesetz «National Origins Act» von 1924 setzte die Zeit der staatlichen Restriktionen ein. Sinkende Geburtenraten und das steigende Wohlstandsniveau in Europa liessen die Auswanderung nach Amerika allmählich verebben.
Heute wird Europa wieder selber zum Einwanderungsziel, der Bedarf an einfachen Arbeitskräften und das demografische Ungleichgewicht wirken dabei als Treiber. Obwohl die Migration nach Europa zwischen 1990 und 2010 laut Livi Bacci immer noch «relativ bescheiden» ausfällt, ist sie zunehmend negativ besetzt: «Die Staaten betrachten Einwanderung als ein Phänomen voller Unbekannter, das es zu filtern, zu kontrollieren, nur im Notfall zu akzeptieren gilt.» Die steigende Intoleranz gegenüber Migranten widerspricht nach Livi Bacci nicht nur jeder wirtschaftlichen und demografischen Vernunft, sie verstärkt auch die Ungleichheiten zwischen den Ländern. Denn historisch gesehen war Migration immer ein Regulativ, das die ökonomischen Gefälle zwischen Regionen ausglich.
Livi Baccis Buch löst zwar keine Probleme in der Flüchtlingskrise, doch sein demografischer Blick auf das Phänomen wirkt in der aktuellen Debatte wohltuend sachlich. Indem Livi Bacci die positiven Effekte von Migration aufgreift, hilft er dabei, sie wieder verstärkt als das wahrzunehmen, was sie jahrhundertelang war: «ein wesentlicher Motor der Gesellschaft». Damit ist seine «Kurze Geschichte» auch ein Plädoyer für einen entspannteren Umgang mit Migration.
Massimo Livi Bacci: Kurze Geschichte der Migration. Verlag Klaus Wagenbach 2015; 176 Seiten; 16.90 Franken.
Heimito Nollé ist Redaktor bei bref.