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Freitag, 15. Oktober 2021

Fotograf unbekannt: Maria Callas als Tosca in London im Januar 1964. In den sieben Vorstellungen wurde sie vom Publikum stürmisch gefeiert.

Ein Bild auswählen, das mir viel bedeutet, und dann darüber schreiben? Nichts einfacher als das. Eine Monet-Seerose? Ein monochromer Rothko? Eine Zeichnung von Klee oder vielleicht doch eher ein religiöses Gemälde aus dem Mittelalter?

Am Ende muss ich mir eingestehen: Meine ganz grosse Liebe ist nicht die darstellende Kunst, auch wenn ich diese sehr mag. Meine grosse Liebe ist die Musik. Bereits als Bub hat sie mich im Innersten berührt. Deshalb entscheide ich mich für eine Fotografie, die eine der bedeutendsten Sängerinnen des 20. Jahrhunderts zeigt.

Mit 12 oder 13 erhielt ich eine kleine Schellackplatte geschenkt. Darauf war die Tosca-Arie «Vissi d’arte, vissi d’amore» aus dem 2. Akt gepresst, gesungen von einer gewissen Maria Callas, ein mir damals völlig unbekannter Name. Als ich die Platte abspielte, musste ich weinen, so überwältigt war ich. Dabei hatte ich keine Ahnung von der Oper oder von dem, was sie sang.

Auf der Fotografie ist Maria Callas 1964 in der Rolle der Tosca zu sehen. Wie kompromisslos sich die Sängerin ihrer künstlerischen Bestimmung hingibt und sie unter Aufbietung aller ihrer Kräfte jederzeit zu erfüllen versucht, ist gut zu erkennen. Ihre ungeheure emotionale Intensität ist aber auch in ihrer Darstellung der Medea, dieser von Liebe und Hass erfüllten antiken Gestalt, zu finden. Das drückt sich in jedem Ton, in jedem Atemholen – ja in jeder Pause aus: Selbst wenn Callas stumm am Geschehen auf der Bühne teilnimmt, ist ihre Präsenz jederzeit spürbar. Für diese künstlerische Leistung zolle ich ihr höchste Bewunderung. Eine Bemerkung am Rande: Luigi Cherubinis Oper « Medea » aus dem Jah 1797 gelang der Durchbruch erst, nachdem Maria Callas 1953 in Florenz erstmals als Medea auf der Bühne stand.

Dabei verfügte die Sängerin nicht über eine klassisch schöne Stimme. In den Höhen war Callas mit zunehmendeAlter mitunter geradezu schrill. Trotzdem oder gerade deshalb bin ich wie Millionen andere Opernliebhaber von ihr so fasziniert. Ingeborg Bachmann hatte für die aussergewöhnliche Gestaltungskraft Callas einmal präzise Worte gefunden: «Sie hat nicht Rollen gesungen, niemals, sondern auf der Rasierklinge gelebt, sie hat ein Rezitativ, das altbacken schien, neu gemacht, ach, nicht neu, sie war so gegenwärtig, dass alle, die ihr die Rollen geschrieben haben, von Verdi bis Bellini, von Rossini bis Cherubini, in ihr nicht nur die Erfüllung gesehen hätten, sondern weitaus mehr.»

Über 65 Jahre sind vergangen, als ich Callas Stimme zum ersten Mal hörte. In dieser Zeit habe ich die kleine Schellackplatte sicher Hunderte, vielleicht auch Tausende Male, angehört. Noch immer trifft mich jeder Ton und jedes Atem­holen mit voller Wucht. So sehr, dass mir auch heute noch dann und wann die Tränen kommen.

Bild aus dem Buch «Callas. Gesichter eines Mediums». Schirmer/Mosel, Deutschland 1993; 272 Seiten; antiquarisch greifbar.

Udo Rauchfleisch ist emeritierter Professor für Klinische Psychologie an der Universität Basel. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählten Persönlichkeitsstörungen, Homosexualität, Gewalt und die Schnittstelle von Psychologie und Theologie. Seit einigen Jahren ist er auch Krimiautor. Der erste Fall seines schwulen Kommissars Schneider aus Basel: «Der Tod der Medea».

  • N° 9/2021

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