

«Blühende Kastanienzweige», Vincent van Gogh, 1890, Öl auf Leinwand. Sammlung Emil Bührle, Dauerleihgabe im Kunsthaus Zürich.
Vincent van Gogh ist nicht mein Lieblingskünstler. Seine Bilder sind mir zu robust und zu omnipräsent, es gibt sie auf jedem Postkartenständer, in jedem Postershop, als Regenschirm, Brillengestell, Küchenschürze oder aus Lego. Weshalb ich mich vor etwas mehr als zwei Jahren fragte, wie es denn eigentlich dazu kommen konnte. Wie einer, der arm und verwirrt gestorben ist und zu Lebzeiten kein Bild verkauft hat, plötzlich derart berühmt werden konnte. Mit etwas Glück, dachte ich mir, steckt eine Frau dahinter.
Und siehe da: Ich hatte recht. Ein halbes Jahr nachdem sich Vincent van Gogh in Auvers-sur-Oise, einem idyllischen, heute sichtbar wohlhabenden Örtchen in der Nähe von Paris, erschossen hatte, starb auch der einzige Mensch, der ihn zu Lebzeiten unterstützt und immer an ihn geglaubt hatte: sein Bruder Theo van Gogh. Theo hinterliess eine Witwe, Johanna van Gogh-Bonger, genannt Jo. Und Jo stand da, mit wenig Geld, einem Baby und Hunderten Bildern.
Sie machte es sich zur Lebensaufgabe, ihren toten Schwager weltberühmt zu machen. Ich war gefesselt vom Leben dieser Frau. Ich spürte, dass ich mich in ihren Dienst stellen und meinen nächsten Roman über sie schreiben musste, es ging gar nicht anders. Und natürlich begann ich, die Bilder, die Jo ins Licht der Öffentlichkeit bugsiert hatte, neu zu betrachten.
Eines davon traf mich wie ein Schock. Wie ein leiser Schock, kein lauter. Ich blieb davor stehen, weil es so schön war, so gar kein van Gogh, die Farben aussergewöhnlich hell und zuversichtlich, dachte ich, ein lichtes, leichtes Bild, kein schweres. Er hatte es zwei oder drei Tage nach seiner Ankunft in Auvers-sur-Oise gemalt, Ende Mai 1890, vielleicht auch Anfang Juni. Er begab sich in dem Örtchen in die Obhut eines Arztes, der sich mit verrückten Künstlern auskannte.
Er malte es genau zwei Monate, bevor er sich schwermütig und umnachtet mitten auf einem Feld in die Brust schoss. Das Bild heisst «Blühende Kastanienzweige», es ist ein Bild von Aufbruch und Abbruch, ein Frühlingssturm ohne jede Ruhe. Schwere Dolden voller weisser Kastanienblüten hängen von einem Gewirr aus dünnen Zweigen; ein paar der Blüten sind schon braun geworden, dazwischen Blätter, und die ganze üppige, zarte, vergängliche Masse ist umgeben von einem Delirium aus tausend Blau-, Lila- und Türkistönen und ab und zu etwas Rost, der mehr zerfressen wird als nur die Blüten.
Ich stand davor, ich wollte meine Hand ausstrecken, wollte sie in den Blüten kühlen, die verblühten wegzupfen und über eins der ledrigen Blätter streichen, wollte dieses verletzliche Stück Frühling retten und zur Ruhe betten, den Aufruhr beschwichtigen. Das Bild wühlte mich ungewöhnlich auf. Die Endzeit der Schönheit, dachte ich.
Die letzten paar Zeilen sind aus meinem Buch, das Bild ist dort festgehalten, es ist eines von den siebzig Bildern, die van Gogh in seinen letzten siebzig Tagen malte. Wenn ich es jetzt betrachte, glaube ich, in den abgebrochenen Zweigen bereits eine Abschiedsahnung zu sehen. Heute hängt es im Kunsthaus Zürich, in der Bührle-Sammlung. Theo und Jo schenkten es Vincents Arzt in Auvers-sur-Oise, der verkaufte es nach Paris, von dort gelangte es zu Jos Geschäftspartner, dem jüdischen Berliner Galeristen Paul Cassirer. Dieser wiederum verkaufte es an den Bankier Franz von Mendelssohn, einen Nachfahren des Philosophen Moses Mendelssohn und des Komponisten Felix Mendelssohn.
Der Bankier starb, bevor die Nazis seine Bank zerschlugen; das Bild gelangte mit anderen in den Besitz seines Enkels, und der verkaufte es 1951 an Emil Bührle. Ich habe mit diesem Bild und seinen Geschichten zu leben begonnen, es bereichert mich immer von neuem. Es ist, trotz seiner grossen Tragik, ein riesengrosses Glück.
Simone Meiers neuer Roman «Die Entflammten» ist im Februar 2024 erschienen.