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Mittwoch, 20. April 2022

Mittlerweile haben wir in unserer Wohnung Bildleisten angebracht – zu oft mussten wir Nägel in die Wände hauen, um die unterschiedlich grossen Malereien unserer Tochter aufhängen zu können, die im Nebenberuf als Künstlerin arbeitet.

Eigentlich ist das Weiss an unseren Wänden für sie reserviert. Doch dann gibt es noch Platz für ein weiteres Bild ; schon viele Jahre hängt es bei uns in der Wohnung. Es ist ein farbenfrohes Gemälde. Die feinen und dick aufgetragenen Linien fallen auf. Manchmal beginnen sie verschwommen, ohne dass sie einen klaren Anfang nehmen. Nur eine blaue Linie zieht sich durch das gesamte Bild. Sie hat einen Anfang und ein Ende.

Das Bild stammt von Samuel. Er kam aus einem fremden Land in die Schweiz und lebte in einer Unterkunft für Geflüchtete. Dort teilte er sich ein Zimmer mit anderen Männern. Dass Samuel künstlerisch begabt war, hatte ein Betreuer der Unterkunft entdeckt. Ständig sah er den schüchternen Samuel zeichnen und malen.

Weil der Betreuer meinte, Samuel sei ein anständiger Kerl, der nie Streit anzettelte, richtete er ihm eine Nische ein, in der er für sich sein konnte. Samuel nutzte den Platz, um dort zu malen und zu zeichnen. Das Taschengeld, das er vom Staat erhielt, sparte er eisern, um davon Farben und Papier zu kaufen.

Meine Frau und ich lernten Samuel kennen, als er in den Gottesdienst der methodistischen Gemeinde in Biel kam. Wir haben nicht schlecht gestaunt, als er eines Tages wieder bei uns zuhause zu Besuch war und uns eines seiner Aquarelle schenkte. Wir unterstützten ihn beim Kauf von Materialien, die er zum Malen brauchte.

Sein Betreuer organisierte eines Tages eine Vernissage für ihn. Als Asylbewerber durfte Samuel zwar kein Geld verdienen, aber er freute sich riesig auf die Möglichkeit, seine Bilder auszustellen. Auf jener Ausstellung haben wir dann dieses Bild erstanden.

Samuel kam in dieser Zeit oft zu uns zum Essen nach Hause. Als er sein Bild aufgehängt sah, merkte ich, dass es ihn stolz machte. Wir fragten ihn, was ihn zu diesem Werk inspiriert habe. Es folgte ein Moment des Schweigens. « Das sind die Spuren der Flüchtlinge, die durch die Wüste und über das Meer ziehen », sagte er uns und fügte an : « Nicht alle schaffen den Weg, darum verschwinden manche Spuren im Nirgendwo. Eine der Spuren gehört zu mir.»

Patrick Streiff lebt in Biel. Er ist der Bischof der Evangelisch-methodistischen Kirche für Mittel- und Südeuropa.

  • N° 3/2022

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