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Autor: Lorenz Marti
Freitag, 14. Februar 2020

Bild: Kaspar Ruoff: «Am Tauen» (2010), 30 × 30 cm, analoge Fotografie, Pigment-Inkjetprint.

Das Eis bricht. Mehr als einen halben Meter dick ist die winterliche Eisplatte, die nun zunehmend zerfällt. Der See, an dem dieses Bild aufgenommen wurde, gehört zur finnischen Seenplatte. Ich war noch nie in Finnland. Der Fotograf Kaspar Ruoff hat mich dorthin mitgenommen, in sein Atelier in der Altstadt von Brugg, wo ich das Bild ausgewählt habe. Das Atelier befindet sich in einer ehemaligen Apotheke, was gut passt: Bilder können heilen. Dieses Foto strahlt eine unglaubliche Ruhe aus und ist Balsam für meine flattrigen Nerven.

Ein Idyll, gewiss, aber ein brüchiges. Risse zeichnen sich ab, Spannungen und Spaltungen sind zu sehen. Der Frühlingswind, so erzählt mir Ruoff, fegt über die Eisdecke und treibt die Eisschollen auseinander. Die gefrorene Landschaft gerät in Bewegung. Alles verflüssigt sich. Die Verwandlung geschieht langsam, aber beständig. Es taut in dieser Gegend gute zwei Monate später als bei uns.

Der See, wie er jetzt allmählich sichtbar wird, ist dunkel und wirkt etwas unheimlich. Die Wälder und Sümpfe haben ihn schwarzbraun gefärbt. Er verschluckt fast alles Licht. Aber nur fast. Dort nämlich, wo sich die Wellen kräuseln, sind feine blaue Spuren zu erkennen: Zeichen des in der Dunkelheit verborgenen Lichts.

Seltsam ist, dass wir uns in einer kalten Landschaft befinden und doch nicht frieren. Sind es die blauen Lichtstreifen oder die blendend hell funkelnden Eiskristalle, welche die Kälte vertreiben? Oder ist es die grosse Stille, welche die Seele wärmt?

Zwischen dem Atelier in Brugg und diesem See in Mittelfinnland liegen mehr als zweitausend Kilometer. Es ist eine andere Welt dort oben. Kaspar Ruoff sucht sie regelmässig auf, um dem Elementaren und ganz Einfachen zu begegnen. Ein Sehnsuchtsort, der auch mich locken könnte. Wer weiss, vielleicht reise ich einmal dorthin. Am liebsten im Frühjahr, wenn das Eis bricht.

Lorenz Marti ist Autor und hat viele Jahre als Religionsredaktor beim Schweizer Radio gearbeitet. Seine Texte haben spirituelle Fragen und Lebenskunst zum Thema. Über eines seiner Bücher hat er den Fotografen Kaspar Ruoff und seine Arbeiten kennengelernt.

  • N° 3/2020

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