«Pegasus» von Hildegard E. Keller. Kaltnadel und Aquatinta. 7,5 × 10,5 cm. 1989 in Zürich entstanden, 2016 in Bloomington gerahmt.
Da galoppiert es, prescht über ein Wolkenpaket und bald auch über den Bildrahmen hinaus. Es fliegt schneller durch die Lüfte als meine Hand mit dem Metallstift über die Druckplatte. Ich liebe diesen wilden Ritt im Tiefdruck, denn man weiss nie so recht, was einem da unter der Hand entsteht. Erst nach dem zweiten Druckvorgang sehe ich das Bild: das geflügelte Pferd Pegasus, Krafttier der Dichter, mit einem Mädchen, das fliegen kann.
Für diesen Druck aus dem Jahr 1989 verwendete ich zwei Kupferplatten mit unterschiedlicher Technik: für die roten Linien Kaltnadelradierung, für Hügel und Himmel grünblaue Aquatinta. Wenn man im Tiefdruck ungenau arbeitet, passen die Farbdrucke nicht zusammen. Eine gute Übung für mich! Tagsüber studierte ich deutsche und spanische Literatur, abends arbeitete ich. Dienstags und donnerstags gab ich Spanischkurse, am Mittwoch ging ich in das Druckatelier an der unvergesslichen Schule für Gestaltung, wo heute eine Baugrube gähnt. Im Atelier gingen gestandene Künstler ihrer Arbeit nach, ich erinnere mich an Max Rüedis Zaubergestalten, wir Neulinge aber lernten bei Aldo Mozzini das Handwerk. Er leitete das Atelier grosszügig, liess uns experimentieren, die Freiheit beflügelte mich.
Jahrzehnte später trug mich die Wissenschaft nach Amerika. Ich war Professorin für deutsche Literatur an der Indiana University. Beim Umzug nach Bloomington packte ich vieles ein, auch das Akkordeon, die Malkästen und meine Marionetten (vor dem Tiefdruck machte ich Figurentheater). Kreativität gab ich mir in Amerika zurück, sie gehörte nun offiziell zu mir. In den zehn Jahren, die ich dort verbrachte, lernte ich filmen, machte Hörspiele mit Studenten, Ausstellungen und eine Musikperformance. Aus einem Impuls heraus liess ich den Druck im Frühling 2016 rahmen. Unmerklich bereitete sich ein Neuanfang vor. Etwas in mir war auf dem Sprung.
Vor Weihnachten lud man mich an eine Kunsthochschule nach Buenos Aires ein, für eine Performance mit Schauspiel und Figurentheater. Diese Gastprofessur führte dann zum Abschied in Bloomington. Ein Freund spielte mir den Song, in dem Cowboy Wildcat singt: «Let me ride through the wild open country that I love. Don’t fence me in.» Pegasus schlug mit seinen Hufen neue Quellen, aus denen neue Projekte sprudelten.
Ich übersetzte das Werk von Alfonsina Storni, der argentinischen Dichterin mit Tessiner Wurzeln; 2022 wurde die fünfbändige Werkausgabe fertig. 2021 kam mein Roman «Was wir scheinen» heraus. Auch seine Hauptfigur Hannah Arendt ist mit Argentinien und der Schweiz verbunden: Buenos Aires, das Versteck von Adolf Eichmann – das Tessin ihr Urlaubsdomizil in späten Jahren. Bei Archivrecherchen für den Roman fand ich ein Märchen von Hannah Arendt, transkribierte es und druckte es im Roman ab. Ein Mädchen reitet auf dem Rücken eines arroganten Pegasus ins Glück.