Foto: Peter Schibli.
Glüht nach, das Bild von Paul Klee, hat mich angesprungen, als ich über Scham schrieb. Ich weiss nicht, ob Klee wirklich Scham ausdrücken wollte. Aber nach meiner Wahrnehmung hat der durch eine Hautkrankeit gezeichnete Künstler in wenigen Strichen und Farbklecksen ein brennend-quälendes Empfinden auf die Leinwand gebannt, das ich mit Scham in Zusammenhang bringe. Auch Schmerz, auch Wut kann brennen. Aber nicht so widerwillig und offenbarend wie Scham, die errötend offenlegt, was sie zu verbergen sucht.
Ich weiss nicht, ob Klee sich seiner Krankheit schämte. Aber ich gehe davon aus, dass er wie fast alle Menschen wusste, wie sich Scham anfühlt. Scham ist paradox: Sie grenzt ab und verbindet. Sie setzt einen Menschen aus und schützt ihn zugleich.
Klee ist ein Meister der Dialektik. Er weiss mit Kontrasten zu spielen, mit Farbe und Form, mit Dingen und Zeichen. Er reiht Perspektiven nebeneinander und schafft es, sie zu einem Ganzen zu machen. Das Bild glüht nach schreit, aber es analysiert auch. In runenhaften schwarzen Formen, die einen menschlichen Körper darstellen, leuchten rote Flächen auf. Besonders betont sind das Gesicht und die Körpermitte, die die Schamgegend umfasst. Rot ist die Farbe der Scham. Sie alarmiert, isoliert, steckt an und glüht nach – alles in einem Gefühl und bei Klee in einem Bild?
Paul Klee malte das 29,5 cm x 21 cm grosse Bild glüht nach 1939, ein Jahr vor seinem Tod. Dabei verwendete er Bleistift und Aquarell auf Papier, das auf Karton angebracht ist. Das Werk ist im Besitz der Fondation Beyeler in Riehen bei Basel.
Daniel Hell ist emeritierter Professor für Psychiatrie der Universität Zürich und seit 2009 als Psychiater und Psychotherapeut an der Privatklinik Hohenegg tätig. Zu seinen Schwerpunkten gehören Depression und andere afffektive Probleme. Sein 2018 erschienenes Buch Lob der Scham setzt sich mit dem Gefühl der Scham auseinander.