Das Böse trat in der Gestalt von Nachbarinnen in ihr Leben, schreibt Sibylle Lewitscharoff. Sie hofft, dass ihnen in der Hölle nicht vergeben wird.
Gut versus Böse, Böse versus Gut. In zugespitzten Lagen kommt das Beste und das Schlechteste zum Vorschein. Eine Krise treibt offenbar den Grundcharakter des Menschen hervor, eine Angst, seine Hilfsbereitschaft, den Hass. Ich habe in dem grossen Berliner Haus, in dem ich wohne, Erstaunliches erfahren. Mit einem Nachbarn zwei Stockwerk unter mir, der vor nicht allzu langer Zeit eingezogen ist, habe ich zum ersten Mal einen Schwatz im Hausflur gehalten. Auf Englisch. Offenbar handelt es sich um einen Australier. Er hatte einen schönen weissen Pudel dabei, einen munteren, erzneugierigen Flitzer, den ich lobte.
Zwei Tage später stand der Mann mitsamt Pudel vor meiner Wohnungstür und überreichte mir ein selbstgebackenes Brot. Er bot auch sogleich an, für mich einzukaufen, denn er hat gemerkt, dass ich schlecht gehe. Das Brot war sagenhaft gut, ich fand die Geste hinreissend. Sogleich wurde mir wohl ums Herz, dass in unserem Haus nun ein weiterer sehr sympathischer Mensch lebt, auf den offenkundig Verlass ist. Wie gesagt, es ist ein typisches Altberliner Haus mit Hinterhof. Im vorderen Teil befinden sich die grossen Wohnungen, nach hinten zu werden die Behausungen kleiner. Ich lebe ganz oben mit Blick auf eine sehr ruhige Strasse, das Haus ist wirklich ein Juwel.
Da ich schon viele Jahrzehnte mit meinem Mann darin wohnte und – nachdem er verstorben ist – nun leider allein hier verblieben bin, kenne ich natürlich viele Mieter des Hauses. Es gibt etliche sympathische Leute, mit denen man auf der Strasse oder auf dem Flur sehr gern einen Schwatz hält. Ich habe mich hier immer gut behütet gefühlt. Vor langer Zeit hat sich die Nachbarschaft zudem auf das allerbeste bewährt. Da fegte ein Frühjahrssturm über Berlin hinweg und riss fast das komplette Dach des Vorderhauses weg. Es gab einen Riesenkrach, als hätte eine Bombe eingeschlagen.
Wir waren in unserer hochgelegenen Wohnung besonders betroffen, weil ein Starkregen niederging, der die Zimmerdecke und Wände im vorderen Teil der Wohnung schleunigst beschädigte. Im übrigen war der Sturm so stark gewesen, dass er Teile des Eisengitters auf der Terrasse aus der Verankerung gerissen hatte. Es dauerte keine fünf Minuten, da standen zehn, zwölf Leute vor unserer Wohnungstür, die mitgekriegt hatten, was bei uns los war. Sie halfen meinem Mann, die schweren Grafikschränke und die Bibliothek in einen sicheren Bereich zu wuchten. Ohne die Hilfe der Nachbarn wäre der Schaden immens gewesen. Kurzum: Hier lebt es sich gut!
Seit einiger Zeit rumort es allerdings gewaltig in unserer über Jahrzehnte hinweg so friedlichen Gemeinschaft. Zwei junge Mietparteien sind im Seitenflügel eingezogen, die unentwegt Party feiern. Kreischend und wummernd laut, grundsätzlich bei geöffneten Fenstern. Ich rede hier nicht von abendlichen Vergnügungen, nein, das geht grundsätzlich bis drei Uhr morgens in der Früh. Natürlich haben sich viele von uns schon beschwert. Bisher ohne Erfolg.
Vorgestern wurde ein schriller Höhepunkt erreicht. Diesmal nicht mit wummernder Musik. Sondern vermutlich hervorgerufen durch Corona-Einschluss. In der Wohnung, die hinten an meine grenzt, ist mitten in der Nacht ein dreistimmiger Zickenkrieg ausgebrochen. Ich mag das Wort nicht, aber es fällt mir kein anderes dazu ein. Irrwitzig laut, über vier Stunden hinweg unentwegt abflauendes und sich wieder hoch auftummelndes Geschrei. Die griechischen Mänaden waren harmlose Stimmmäuschen dagegen.
Auch bei sämtlichen geschlossenen Fenstern konnte ich jedes hysterisch hochgeschraubte und in platzender Wut herausgeschleuderte anale Brüllwort verstehen. Die von Thomas Mann im Doktor Faustus so trefflich beschriebene Tonhölle war in unserer friedfertigen Landhausstrasse ausgebrochen: Gilfen, Schrillen, Schreien, Heulen, Stöhnen, Gurgeln, Kreischen, Brüllen, Spucken, Zetern – ein barbarischer Mix aus Folterjubel, Höllengejauchz und Schandgetriller. Ja, es gibt sie, die Hölle. Schon auf Erden und womöglich späterhin weit unter dem Gefild. Ganz unchristlich hoffe ich, dass den drei Brüllzicken nicht vergeben wird.