Überschätzt – Unterschätzt

Jubilieren

Die Seite wurde Ihrer Lesezeichenseite hinzugefügt. Klicken Sie auf das Menüsymbol, um alle Ihre Lesezeichen anzuzeigen. Die Seite wurde von Ihrer Lesezeichenseite entfernt.
Freitag, 12. August 2022

Wir Protestanten – ganz gleich ob von Calvin, Luther oder Zwingli geprägt – haben mit dem Jubilieren unsere liebe Not. Das liegt zum einen an der puritanischen Gesinnung, die sich begeisterte Gefühlsausbrüche versagt. Zum anderen hält ein aufklärerischer Skeptizismus jede frenetische Ausdrucksweise für unangebracht. Wer rechtschaffen und in Demut ein gottgefälliges Leben führt, trägt schon genügend zur Preisung des Herrn bei. Da muss man nicht übertreiben. Das Jauchzen und Frohlocken überlässt unsereins da lieber getrost dem Hauskomponisten Johann Sebastian Bach. Keiner konnte das Jubilieren so wunderbar in Töne setzen wie er. Seither jubilieren wir Protestanten immerhin im Weihnachtsoratorium –
allerdings meistens vom Blatt.

Auch die dicklichen Putten, die unaufhörlich mit ihren Zimbeln und Harfen in katholischen Kirchen herumschwirren, wirken auf uns eher suspekt, genauso das ekstatische Jubilieren in den charismatischen Pfingstkirchen. Die ziehen in US-amerikanischer Manier zur evangelikalen Massenbeglückung eine Mega-Show ab.

Im vernunftgeleiteten protestantischen Christentum bereitet uns der Rausch – und nichts anderes ist ja das Jubilieren – offensichtlich Angst. An der absoluten Hingabe an eine Macht, die unser Bewusstsein übersteigt, schreckt uns der Kontrollverlust. Dabei ist das doch der Wesenskern des Glaubens: für einen Moment verschmelzen mit Gott.

So gibt es, was das angeht, in der evangelischen Kirche eine sinnliche Leerstelle. Diese Entsagung müsste aber nicht sein. Wenn wir unseren Prinzipien treu bleiben wollen, müssen wir doch nur – «Sola Scriptura» – dem Bibeltext vertrauen und dem Jesuswort folgen: «auf dass sie werden wie die Kinder». Denn Kinder halten bekanntlich mit ihren Glücksgefühlen nicht hinter dem Berg. Ihre Freude steckt an und setzt uns in einen euphorischen Zustand, der uns näher an den Himmel heranreichen lässt.

Woanders funktioniert das mit dem Jubeln ja: Wenn sich die Begeisterung über ein Tor unseres Fussballclubs lauthals Ausdruck verschafft, oder wenn wir im Konzert unsere Stars feiern. In der Kirche lassen wir unseren Freudengefühlen viel weniger freien Lauf. Vielleicht deswegen: Gott kann man den Jubel nicht entziehen, weil er weder einen Elfmeter vergeigt noch einen Hit verpatzt. Der Jubel über die Güte des Herrn ist dagegen an keine irdischen Erwartungen geknüpft. Das macht ihn so befreiend. Er will nichts anderes sein als reiner Ausdruck der Freude und Dankbarkeit, der sich eine Stimme sucht. Oder wie es bei Lukas im Vers 6,45 so wunderbar geschrieben steht: «Spricht doch der Mund nur aus, wovon das Herz überquillt.»

Titelbild: ALAN KING / ALAMY STOCK FOTO

  • N° 7/2022

    CHF14.00
    In den Warenkorb