Aus der Herzkammer

Johanna

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Autor: Ramin Nikzad
Freitag, 30. August 2019

Mitte Mai 1997.

Ich habe vormittags meine schriftliche Mathematik-Matura und danach geh’ ich nach Hause und bin dabei, mir ein Mittagessen zu kochen, als das Telefon läutet.

Ich geh’ ran.

Doch ich hör’ nichts.

«Hallo? Hallo??»

«Ramin! I bin’s. Der Karli!»

Mein Onkel Karli. Verheult und gebrochen.

«Ramin! Die Mutti … die Oma … die Oma is tot. Die Mutti is tot.»

Meine geliebte Oma Johanna ist einfach umgefallen. Zack. Umgefallen. Mein Opa Karl hat sich noch auf sie geworfen und sie beatmet und ihre Brust massiert. Doch es war sinnlos. Sie war tot. Sofort tot.

«Bitte gib der Frida Bescheid, Ramin! Sog der Frida, dass mi aunruafen sull, Ramin!» sagt mein Onkel Karli.

«Ja. Ja, ich sag der Mama, dass sie dich anrufen soll, Onkel Karli», antworte ich. Meine Stimme klingt metallisch und fern. Mein Körper ist taub. Onkel Karli legt auf.

Ich geh in mein Kinderzimmer und leg’ mich ins Bett und roll mich ein.

Ich zieh’ die Beine an und umarme meine Knie. Und da fängt es an.

«Oma! Oma!»

Plötzlich brülle und heule ich los.

«Nein!!! Nein, Oma! Bitte nicht, Oma!»

1983 Hartberg. Ich war vier Jahre alt und verbrachte den Sommer bei meinen Grosseltern in der Steiermark.

Meine Oma Johanna ging mit mir in die Stadt, um Einkäufe zu erledigen. Wir gingen zum Adeg, wo ich die Verkäuferinnen mit meinem Charme längst so eingekocht hatte, dass ich wann immer ich wollte in die Gefriertruhe hineinklettern konnte, was mir immer, warum auch immer, die allergrösste Freude beim Adeg in Hartberg bereitete.

Doch sobald ich in der Truhe sass, rief ich sofort: «Oma! Kalt! Ramin kalt, Oma!»

Dann hob sie mich aus der Truhe und drückte mich an sich und rieb mir über den Rücken.

«Glei wird da wieder woam. Glei wird da wieder woam, mei liabs Kindl!»

Ich liege also Mitte Mai 1997 in meinem Kinderzimmerbett in meiner Embryonalstellung und starre auf meine Kinderzimmertapete und weine vor mich hin, als plötzlich die Eingangstür aufgeht.

Ich reiss’ mich zusammen, steh’ auf und geh’ in den Vorraum. Meine Mutter steht vor mir und sieht mich an.

«Was ist denn los, mein Schatz?»

Ich geh’ in die Knie und fang’ wieder an zu heulen. Meine Mutter stürzt herbei und umarmt mich.

«Mein Schatz, das macht doch nichts, wenn du die Mathe-Matura verhaut hast! Das ist doch nicht so schlimm! Du wiederholst sie im Herbst, und dann wirst du sie schaffen, mein Schatz, das weiss ich ganz genau!»

«Mama, bitte setz dich hin!»

« … Aber, mein Schatz, das ist doch nicht so schlimm. Mein Gott, es ist doch nur eine Prüfung …»

Ich schrei’ sie an: «Mama!!! Setz dich jetzt bitte hin!»

Sie setzt sich langsam und konsterniert auf den Boden des Vorraums. Neben mich.

«Der Onkel Karli hat grad’ angerufen.»

«Der Karli?»

«Die Oma … Die Oma … Die Oma ist tot!»

Meine Mutter schliesst die Augen und versinkt.

Sie versinkt und ihr Gesicht versinkt und ihre Brust versinkt, alles an ihr versinkt und wird trocken und gelb.

Und dann weint sie.

Ihre Tränen fliessen auf den Perserteppich in unserem St. Pöltner Vorraum.

«Ach Gott. Ach Gott, Mutti, ach Gott, liebe Mutti», flüstert sie.

Ich werde nie vergessen, wie sie versank, wie sie in sich versank, wie sie zerfiel vor meinen Augen. Wie klein und gelb sie plötzlich wurde.

Und da begriff ich:

Wenn ein Mensch seine Mutter verliert, verliert er den Boden unter seinen Füssen.

  • N° 15/2019

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