Der ehrliche Klappentext

«Heute habe ich beinahe was erlebt. Ein Tagebuch» von Ursus Wehrli

Mit «Heute habe ich beinahe was erlebt» gibt der Künstler und Kabarettist Ursus Wehrli ein vermeintliches Tagebuch heraus, das Tief­gründiges mit Absurdem und Banalem paart. Eine Ermutigung, sich mit den Unzulänglichkeiten des eigenen Lebens zu versöhnen.
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Autorin: Gisela Feuz
Freitag, 06. November 2020

Es gibt einen grundlegenden Fehler, den man bei der Lektüre von «Heute habe ich beinahe was erlebt» nicht machen darf: das Buch dafür zu halten, was es vorgibt, zu sein. Das Büchlein ist der vierte gebundene Titel von Ursus Wehrli, seines Zeichens bildender Künstler, Fotograf, Aktionskünstler und Kabarettist. Im Untertitel wird Wehrlis neustes Werk als Tagebuch bezeichnet – handschriftliche Einträge, flüchtige Notizen oder auch mal der Abdruck eines Weinglases täuschen Echtheit vor. Doch ein Tagebuch im eigentlichen Sinne ist es nicht. Zwar stammen die Einträge von derselben Person, allerdings fehlen Datum, Kontinui­tät, roter Faden oder wiederkehrende Personen fast vollständig.

Die Einträge an den einzelnen Tagen sind kurz, manchmal gar nur ein bis zwei Sätze lang. So wie hier: «Samstag: Heute ging alles schief. Das war ein Fest!»

Liest man die Notizen in einer Reihe, könnte der Eindruck entstehen, dass hier eine vereinsamte und verlorene Seele zu Wort kommt, die zwischenzeitlich nicht weiss, wie ihr geschieht und ganz nebenbei mehrere Selbstmordversuche erwähnt. Versteht man jeden Eintrag aber als eigenständige Miniatur, dann tut sich hier ein schillerndes Kaleidoskop an Bedeutungsebenen und Tonalitäten auf: «Sonntag: Heute habe ich über die Schnur gehauen. Sie hing aber auch recht tief.»

Der vermeintliche Verfasser dieser Tagebucheinträge ist mal fauler Kerl, der den lieben langen Tag gerne im Bett verbringt, dann wieder naiv-kindlicher Welterkunder, der von einer absurden Situation in die nächste stolpert. Einige der geschilderten Erlebnisse muten kafkaesk an, dann wieder offenbart sich der namenlose Protagonist als Schlitzohr und pubertär-humoriger Spassvogel mit Vorliebe für Kalauer und Wortwitz. So besucht er etwa den Reimverein «Dichtungsring» oder verheddert sich am Telefon in der Warteschleife. Die Zusammenfassung eines denkwürdigen Freitags klingt so: «Heute hatte ich den schönsten Tag meines Lebens. Dann kam der Konjunktiv und hat alles kaputt gemacht.»

Nebst der ganzen Ansammlung von humoristischen, skurrilen und absurden Einträgen lassen sich auch solche finden, die mit der sprachlichen Metaebene flirten, einen beissenden Kommentar auf die Mechanismen unserer schnelllebigen Zeit abgeben oder gar wie expressionistische Lyrik anmuten. Dabei betreibt der fiktive Tagebuchschreiber viel Nabelschau, wird zwischendurch aber auch gesellschaftskritisch, zum Beispiel in folgendem Montag-Eintrag: «Auf meine Frage, weshalb der Zutritt zum Wald plötzlich Eintritt koste, antwortete die Frau an der Kasse freundlich, das sei ein Unkostenbeitrag zur Deckung der Unkosten. ‹Was denken Sie denn, was der Unterhalt dieses Zaunes, des Kassahäuschens und des Souvenirladens kostet?›»

Bei der Lektüre der Einträge wird offenkundig: hier ist ein Schriftsteller am Werk, der nicht will, dass sich sein Publikum in Sicherheit wähnen kann, was denn da als nächstes kommen möge. Mit seinen Kurzeinträgen lockt Ursus Wehrli die Leserschaft auf falsche Fährten, um dann unerwartet eine ganz andere Abzweigung zu nehmen. Dinge werden auf den Kopf gestellt und aus ungewohnter Perspektive betrachtet, auf Tiefgründiges folgt Nonsens, auf Banales Existenzielles. So etwa auch hier: «Die Lösung: von nun an tue ich einfach immer so, als ob es mir gutginge.»

«Heute habe ich beinahe was erlebt» ist ein Buch voller Brüche. Und dadurch paradoxerweise vielleicht sogar viel näher am Leben dran, als es das wäre, wenn hier ernsthaft eine Person ihre Gedanken zu ihrem Leben notiert hätte. Wehrlis unorthodoxer Zugang und seine überbordende Phantasie schärfen den eigenen Blick für Skurrilitäten und Ambiguitäten des Alltags. Kaum eine Situation ist eindeutig, sondern lässt sich stets durch eine Vielzahl an Lesarten interpretieren. Manchmal sind Dinge nicht verständlich, aber trotzdem lustig. Manchmal stimmen sie nachdenklich und lassen einen trotzdem laut herauslachen. Genau so, wie Wehrlis «Tagebuch» auch.

Ursus Wehrli: «Heute habe ich beinahe was erlebt. Ein Tagebuch». Kein & Aber, Zürich 2020; 144 Seiten; 20 Franken.

Gisela Feuz ist Kulturjournalistin.

  • N° 13/2020

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