Der ehrliche Klappentext

«Helden» von Franco Berardi

Columbine, Blacksburg, Winnenden und zuletzt München: Amokläufe von Jugendlichen sind keine Seltenheit. Dennoch erschrecken sie immer von neuem. Was veranlasst Jugendliche zu solchen Wahnsinnstaten? Der italienische Philosoph Franco Berardi sucht in seinem Buch «Helden» nach einer Antwort. Und wird im Geist des Kapitalismus fündig.
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Freitag, 29. Juli 2016

Als ausdruckslos und leer beschreiben ehemalige Kommilitonen das Gesicht von Seung- Hui Cho, der am 16. April 2007 an der Universität Virginia Tech im amerikanischen Blacksburg 32 Menschen tötete. Der Täter benutzte eine 9-Millimeter-Pistole, als er in die Seminarräume für Ingenieurfächer stürmte, die Türen mit Ketten verschloss und binnen eineinhalb Minuten ein unglaubliches Blutbad anrichtete. «Er war sehr ruhig, schien aber sehr bedacht darauf, auch wirklich jeden zu treffen», schildert eine überlebende Studentin später.

Der Amoklauf an der Virginia Tech gehört zu den brutalsten in der Geschichte der «School Shootings», die sich seit den neunziger Jahren zuerst in den USA und dann auch in Europa auf beängstigende Weise häuften. Sie lassen eine verstörte Öffentlichkeit und verzweifelte Angehörige zurück, denen meist nur die üblichen psychiatrischen Gutachten bleiben, um das Unfassbare zu verarbeiten.

«Eine Mischung aus Widerwillen und perverser Faszination» habe ihn dazu getrieben, sich in die Biografien von Amokläufern wie Seung-Hui Cho zu ver­tiefen, schreibt Franco Berardi über sein neues Buch Helden. Geradezu «begierig» sog er alle Informationen auf, studierte die Psychogramme der Täter und rekonstruierte die Tathergänge. Immer deutlicher wurde für ihn, dass die abscheulichen Taten nicht isoliert als psycho­pathologisches Geschehen betrachtet werden dürfen.

Berardis Buch ist der Versuch, die Motive jugendlicher Amokläufer vor dem Hintergrund der «Psycho-Landschaft» unserer Zeit zu deuten. «Es gibt einen Zusammenhang zwischen diesem so unglaublich häufigeren Drang zum Selbstmord und dem Triumph des neoliberalen Wirtschaftszwanges», schreibt er. Die dauernde Inanspruchnahme unserer Aufmerksamkeit durch Arbeit, Werbung und Konsum führe zu einer psychosozialen Mutation, durch die schliesslich alle traditionellen Beziehungsformen aufgelöst werden: «Die Lähmung der empathischen Beziehungen und eine immer fragilere Basis für irgendein zwischenmenschliches Verständnis – dies sind die Merkmale der Psycho-Landschaft unserer Zeit.»

Wurzellosigkeit, Einsamkeit und Desorientierung sind, so Berardi, die Folgen dieser Entwicklung. Sie treffen vor allem die schwächsten Glieder der Gesellschaft: Menschen in prekären Lebensverhältnissen, Jugendliche, psychisch Labile. Während die Finanzkrise eine kleine Schicht von Wohlhabenden noch reicher machte, produzierte sie eine immer grössere Masse von Menschen, die sich als Verlierer des Systems verstehen müssen und denen nichts als Wut und Verzweiflung bleiben. Der Autor legt nahe, dass diese Ungerechtigkeit bis in die feinsten Kapillaren der Gesellschaft dringt und sich in der suizidären Gewalttat von Jugendlichen schliesslich ein Ventil schafft. Für Berardi sind die Täter die negativen «Helden» einer kapitalistischen Moderne, deren Leistungszwang sie verinnerlicht haben und der sie durch ihre schrecklichen Taten den Spiegel vorhalten.

Ist also der Kapitalismus schuld an diesen Gewaltakten? Bei aller Eloquenz des Philosophen bleibt am Ende die Frage offen, wieso bestimmte Jugendliche zu Tätern werden, andere aber nicht. Gegen Berardi spricht auch, dass auffällig viele Amokläufer aus einer relativ behüteten Mittelschicht stammen. Gerade sie zu Globalisierungs- und Kapitalismusopfern zu stilisieren leuchtet nicht ein. Der Psychologe Peter Langman etwa relativiert in seinem Buch Amok im Kopf das Bild vom Täter als gesellschaftlichem Verlierer. Viele dieser Jugendlichen seien sozial integriert und bei den Mitschülern akzeptiert gewesen, stammten aus gutem Elternhaus und verfügten über entsprechende Zukunftsperspektiven. Ein Blick auf solche empirischen Forschungen wäre sicher nicht falsch gewesen. So liefert Berardis Buch zwar ein eindrückliches Zeitgeistpanorama. Wo es aber darum geht, die individuellen Motive der Täter zu verstehen, ist sein philosophischer Ansatz nur bedingt hilfreich.

Franco Berardi: Helden. Über Massenmord und Suizid. Matthes & Seitz; Berlin 2016; 282 Seiten; 31.90 Franken.

Heimito Nollé ist Redaktor bei bref.

  • N° 14/2016

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