Helmut Krausser gab einst als 16jähriger mit 13 pessimistische Gedichte sein Début in der Literaturszene. Heute, mit 53, ist Krausser nicht nur Lyriker, sondern auch Komponist, Bühnen- und Romanautor. Eines aber ist ihm geblieben: der Pessimismus. Diese Schlussfolgerung legt jedenfalls sein neustes Werk Geschehnisse während der Weltmeisterschaft nahe.
Wir schreiben das Jahr 2028, Ich-Erzähler Leon Sklydolchowski gewährt Einblick in sein Leben. Zwar ist dieser Leon ein unsympathischer Frauenverachter, aber in einem ist er ausnehmend talentiert: Sex. Leon ist nämlich Teil eines Teams – «der Alpha-Player», wie er sich selber nennt –, das professionell die Sportart Leistungssex (kurz: LS) ausübt. In LS gibt es Disziplinen wie «Speedmasto», «Orasticon» oder «Manusticon», wobei dem sexuellen Akt jegliche Romantik, Anzüglichkeit oder Schmuddeligkeit ausgetrieben wurde. Beim LS wird der Körper als Spog (Sportgerät) bezeichnet, der sexuelle Vorgang als solches wird nüchtern als «inter-kursieren» oder «koitieren» beschrieben. Jährlich finden LS-Weltmeisterschaften statt, wobei die verschiedenen Disziplinen vor Publikum in grossen Hallen ausgeübt und live in die Fernsehstuben übertragen werden. Krausser lässt seinen Roman während einer solchen LS-Weltmeisterschaft spielen, und zwar in Kopenhagen, der einzigen Stadt, die liberal genug ist, um die umstrittene Veranstaltung noch zu tolerieren. LS verfügt zwar über eine grosse voyeuristische Anhängerschaft, doch machen sich auch diverse Gruppierungen gegen das unmoralische Treiben stark. Nebst mit öffentlicher Kritik hat LS auch mit verbandsinternen Problemen zu kämpfen: Es wird geschoben und bestochen, und einer der Funktionäre kommt zu Tode.
Mittendrin im Wettkampf als Teil von Team Berlin: «Sportficker» Leon, abgestumpft und seiner Betätigung überdrüssig. Die Fans lieben ihn, vor allem die weiblichen liegen ihm zu Füssen, doch Leon ist insgeheim in seine Teampartnerin Sally verliebt. Daraus ergibt sich die absurde Situation, dass Leon während der Weltmeisterschaft zwar mehrmals täglich mit Sally sexuell verkehrt, ansonsten aber kaum ein persönliches Wort mit ihr wechselt, geschweige denn seine Liebe gesteht. Denn echte Gefühle haben im LS keinen Platz. Und dann ist da auch noch dieser seltsame Nebenbuhler namens Noel, der mit Sally per E-Mail über Gefühle korrespondiert und angibt, im Rollstuhl zu sitzen und absolut unansehnlich zu sein.
Vieles bleibt unkonkret und wirkt hingeworfen in Kraussers Roman. So spricht der Ich-Erzähler zwar von «grossen Umwälzungen», die in Europa stattgefunden hätten, und lässt durchblicken, dass fast überall Radikale die Macht übernommen hätten. Mehr ist aber nicht zu erfahren. Schade. Denn hier hätte Krausser seiner Geschichte Tiefe verleihen können. So wundert man sich, was denn nun Sinn und Zweck des Romans sein soll. Soll der sarkastische und schnoddrige Leon als ein auf seinen Geschlechtstrieb reduzierter Mann fungieren, der im Kern doch aber eigentlich ein sensibler Kerl wäre? Die Tatsache, dass der Name Noel, umgekehrt gelesen, Leon ergibt und die beiden Figuren wahrscheinlich ein und dieselbe Person sind, lässt diese Vermutung zu. Doch auch hier: Das Doppel Leon und Noel wird nicht weiter ausgeleuchtet.
Wenig gelungen sind auch Kraussers Wortschöpfun- gen wie etwa das «Damoklesfallbeil» oder die sich wiederholenden Aufforderungen Leons an den Leser, unbekannte Worte zu googeln. Die derbe Sprache, die wohl provozieren soll («Geh das googeln, du dumme Dreck- sau!»), ermüdet, und die wiederkehrenden Dostojewski-Zitate, mit denen sich Leon schmückt, wirken pseudo-intellektuell.
Immerhin: Das Finale von Während der Weltmeisterschaft ist temporeich und spannend. Ansonsten aber ist man geneigt, Kraussers viertes Werk als krude Altherrenphantasie abzutun. Einen substanziellen Beitrag zur Frage, ob die Pornofizierung der Sexualität die Menschen abstumpft und sie vom eigenen Körper entfremdet, sucht man jedenfalls vergebens.
Helmut Krausser: Geschehnisse während der Weltmeisterschaft. Berlin-Verlag, Berlin 2018; 240 Seiten; 29.90 Franken.