Der ehrliche Klappentext

«Fleisch» von Volker Demuth

Ob im Fitnessstudio, auf dem Teller oder im Porno: Fleisch ist überall. Der Schriftsteller Volker Demuth zeichnet nach, wie Fleisch im Laufe der Geschichte geopfert, seziert, gefeiert und optimiert wurde. Mit seiner Carneologie gelingt ihm ein ungewohnter Blick auf Kultur, Politik und Geschichte des Abendlandes.
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Freitag, 11. November 2016

In spätnächtlicher Runde im Londoner Soho soll der irische Kunstmaler Francis Bacon einst «We are all meat!» ausgerufen haben. Ein seltsamer Trinkspruch, denn kaum jemand sieht sich selbst wohl als ein Stück Fleisch. Doch der Schriftsteller und Kulturwissenschaftler Volker Demuth teilt Bacons Faszination für das Fleisch. Anders als der Körper, so Demuth, sei dieses selten Gegenstand kulturphiloso­phischer Erkundungen, denn es entziehe sich der wissenschaftlichen Sprache. Demuth setzt an genau dieser Leerstelle an. Seine Carneologie erzählt die Geschichte des Abendlandes vom Fleisch her. Literarisch brillant und philosophisch dicht erläutert Demuth, wie Fleisch im Lauf der Geschichte zum Gegenstand theologischer, medizinischer, eugenischer, nationalistischer, pornografischer und schliesslich biotechnischer Zugriffe wurde. In insgesamt zwölf essayistischen Erkundungen spannt er dabei einen Bogen vom christlichen Opfertod bis hin zu den biotechnischen Manipulationen der Gegenwart, von den Anatomiesälen der Aufklärung bis hin zum «Pornofleisch» der Kulturindustrie. Dabei geht es dem Autor darum, sowohl Kontinuitäten wie auch Brüche in der Art und Weise, wie Fleisch historisch in Erscheinung tritt, herauszuarbeiten.

Demuth beginnt mit der christlichen Vorstellung der Inkarnation. Mit dem Kreuzestod Christi tritt das menschliche Fleisch als heilsrelevanter Stoff in die Geschichte ein. Der Autor bezeichnet das Christentum als «Religion der Wundversorgung und des Martyriums». Diese Ambivalenz, im Fleisch die Rettung wie auch das Hinfällige zu sehen, macht er bis weit in die neuere Geschichte hinein aus.

Mit der Aufklärung entwickelt das Fleisch politisch und philosophisch ein Eigenleben. Demuth zitiert hier Julien Offray de La Mettrie und den Marquis de Sade, um zu zeigen, wie sich das Fleisch aus dem Käfig von Religion und Moral befreit. Anatomische Erkenntnisse und Medizin machen aus dem Menschen eine amoralische Lustmaschine: «Der Mensch ist das grausamste Tier», keucht der Bohémien Baudelaire im Paris der 1840er Jahre, bevor er sich ins Fleisch seiner Geliebten verbeisst. Den Siegeszug des moralbefreiten Fleisches verfolgt Demuth bis in die Fitnessstudios und Beauty-Farms der Gegenwart: In der modernen Gesellschaft geht es um Spass, gutes Aussehen und fleischliche Lust. Nirgends ist dieser Hedonismus präsenter als im Porno. Das «Pornofleisch» ist für Demuth der zahnlose Nachfahre der Sadeschen Lustbestie und verliert seinen erotischen Sinn.

Mit dem Triumph des Materialismus verschwindet die christliche Idee des Fleischesopfers allerdings nicht. Es taucht in der neueren Geschichte da auf, wo die zerstückelten Körper der Soldaten die Äcker der Nationen nähren. Aus dem transzendenten Opfer Christi wird der Kriegsheld – und das Kanonenfutter für die Waffenindustrie. Diese «Politik des Fleisches», wie Demuth sie nennt, findet ihren albtraumhaften Endpunkt in der Vernichtungsmaschinerie des Nationalsozialismus. Der Lagermensch ist nur noch nacktes, biologisches Fleisch. Der menschliche Leib schrumpft zum rassisch-verderblichen Kadaver zusammen. Hier gehen Demuths Beschreibungen ans Eingemachte.

Ein Ausblick auf den Posthumanismus schliesst Demuths carneologischen Studien ab. Im Zeitalter von Prothesen und biotechnischer Manipulation scheint die Überwindung des Fleisches zum Greifen nah: Sie ist hier nicht mehr transzendentes Heilsversprechen, sondern technologische Vision. Mit dieser, so Demuth, ver­schwindet aber auch die Verletzlichkeit, die den Menschen letztlich ausmacht. «Vielleicht werden wir den Tod verteidigen müssen», so sein Fazit. Hier schliesst sich der Kreis zur christlichen Botschaft.

Demuths Streifzüge verlangen der Leserin einiges an philosophischem und historischem Vorwissen ab. Wer sich aber auf die carneologische Sichtweise des Au­tors einlässt, dem eröffnen sich neue Perspektiven auf geschichtliche Prozesse – und die eigene Fleischlichkeit.

Volker Demuth: Fleisch. Matthes und Seitz; Berlin 2016; 332 Seiten; 35.90 Franken.

Susanne Leuenberger ist Redaktorin bei bref.

  • N° 21/2016

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