Im Sommer 1989, ich war zehn Jahre alt, habe ich täglich mit meiner Oma Aghdas und meinem Opa Sádegh Falcon Crest geschaut.
Die zwei verbrachten die Sommer meist in Österreich, um der Teheraner Hitze zu entfliehen, und so sassen wir allabendlich vor dem Fernseher und verfolgten gespannt die irrwitzigen Intrigen und unwahrscheinlichen Schicksale dieser dekadenten kalifornischen Grossfamilie.
Ich sass unmittelbar vorm Fernseher, meine Grosseltern hinter mir auf der Couch, und ich übersetzte für sie synchron von Deutsch auf Farsi.
Meine persischen Grosseltern hatten nie bewusst und vorsätzlich Deutsch gelernt, aber meine Oma Aghdas eignete sich aufgrund ihrer gierigen Neugier und ihres persönlichkeitsimmanenten Radars für alles und jeden in ihrem Umfeld unbeabsichtigt ein umfassendes passives Verständnis der deutschen Sprache an, so dass, wenn ich meine Mutter auf Deutsch um Einkaufswünsche fragte, statt ihr Oma Aghdas antwortete: «… Ye kilo gushte gusfand bekhar, azizam, ke fardá khoreshte gheime dorost konim … (… Kauf ein Kilo Lammfleisch, mein Schatz, damit wir morgen einen Lammeintopf mit Limetten und Spalterbsen machen können …)»
Mein Grossvater Sádegh hingegen verstand wortwörtlich nur «Bahnhof».
Er machte täglich stundenlange Spaziergänge durch St. Pölten. Er spazierte die Traisen entlang flussabwärts bis nach Spratzern oder flussaufwärts bis nach Radlberg.
Und für den Fall, dass er sich einmal verirrte, trichterten wir ihm das Wort «Bahnhof» ein, denn vom St. Pöltner Bahnhof fand er immer zurück zu unserer Wohnung in Viehofen.
Und so verirrte er sich eines Tages tatsächlich, und da kam eine Frau vorbei, und er verbeugte sich vor ihr und sagte:
«Madame! Bánhof? Bánhof?»
Diese junge St. Pöltnerin nahm meinen Grossvater an der Hand und führte ihn bis zum St. Pöltner Hauptbahnhof.
Dort verbeugte sich mein Opa Sádegh vor ihr und sagte: «Dánker!»
Na, jedenfalls verfolgte ich in den achtzigern also tagtäglich und fieberhaft Falcon Crest mit meinen Grosseltern als Deutsch-Farsi-Synchrondolmetsch.
Meine Oma verfolgte jedes Detail und jede Wendung mit grossem Interesse und wachem Sensorium, bemerkte jede noch so irrelevante Kleinigkeit und gab ununterbrochen Bemerkungen von sich wie:
«In gardanbandro baráye arusi-e pesaresh ham pushid ke! (Dieses Halsband hat sie doch schon zur Hochzeit ihres Sohnes getragen!)»
Mein Opa hingegen verfolgte die Serie sehr ruhig und stoisch mit, nickte immer, wenn ich ihm etwas übersetzte oder erklärte, aber äusserte sich kaum dazu. Ich glaube, er war meist mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, wenn er vorm Fernseher sass.
Nach etlichen Wochen sagt mein Grossvater während einer Folge plötzlich:
«In dotá cherráh hanuz bachedár naschodand? (Warum haben die zwei noch keine Kinder?)»
Meine Oma sieht ihn fassungslos an und ruft:
«Nikzad?! Mage to khábi? Sat bár be-et goftim iná barádar-kháhar hastand! (Nikzad?! Sag’ mal, schläfst du? Hundert Mal haben wir dir gesagt, dass das Bruder und Schwester sind!)»
«Aslan shekle barádar kháhar nistand. (Sie sehen überhaupt nicht aus wie Bruder und Schwester.)»
«Honarpishehá hastand! Ey dáde bidád … (Es sind Schauspieler, verdammt noch mal! Das darf doch nicht wahr sein …)»
Und dann schüttelte meine Grossmutter verbissen den Kopf und murmelte vor sich hin:
«Mardike hichi hálish nemishe (Der Mensch kriegt überhaupt nichts mit)» und fügte noch eines ihrer Millionen nordpersischer Sprichwörter hinzu:
«Kenge chu zanene, gene taktak kejue! (Wenn man ihm den A**** auspeitscht, fragt er, wo das Geräusch herkommt!)»