Für Millionen Menschen habe das 20.Jahrhundert nichts weiter als ein Leben im Albtraum geboten, schreibt Barbara Hahn in ihrem neusten Buch – und begibt sich sogleich mitten hinein in diesen Albtraum. In essayistischen Erkundungen versammelt die Literaturwissenschaftlerin Traumnotizen, die Zeitzeugen und Überlebende der Kriege des vergangenen Jahrhunderts aufgezeichnet haben, sowie Träume, die literarisch verarbeitet wurden.
Viele Schriftsteller dokumentierten ihre Kriegsträume, so etwa die österreichische Literatin Paula Ludwig. 1935 veröffentlichte sie die Traumlandschaft, eine Sammlung von 36 undatierten Träumen. Der deutsche Schriftsteller Horst Bienek wiederum, 1951 in der DDR verhaftet, verarbeitete seine vier Jahre Zwangsarbeit im Gulag im Traumbuch eines Gefangenen. Zu den zahlreichen Träumenden, die Hahn zu Wort kommen lässt, gehört auch die algerisch-französische Autorin Hélène Cixioux. In einer undatierten Aufzeichnung befindet sie sich mit ihrer deutschen Grossmutter – einer nach Frankreich emigrierten Jüdin – zu Besuch in Auschwitz. Immer wieder träumt sie von Babys, Babys ohne Mütter, Babys, um die sie sich kümmern muss: «Meine Traumfabrik ist in den 40er Jahren gebaut worden, während der Bombardements, im Krieg.»
Neben dem Traum als Abbild einer pervertierten Welt beschreibt Hahn den Traum als Überlebensstrategie. So etwa beim spanischen Schriftsteller Jorge Semprún. 1943 wurde Semprún von der Gestapo als Mitglied der kommunistischen Résistance verhaftet und ins KZ Buchenwald deportiert. Von dieser Zeit handelt seine Erzählung Der Tote mit meinem Namen. Dabei ist es ein Traum, der dem Ich-Erzähler hilft, eine neue Identität anzunehmen. Am Tag vor der Traumnacht erfährt der Protagonist, dass er hingerichtet werden soll. Um seinen Tod zu verhindern, wechselt er die Identität mit einem ebenfalls internierten, sterbenden Studenten aus Paris. Fortan wird er unter dessen Namen weiterleben. In der besagten Nacht träumt er, wie der Sarg seiner Mutter «an einem falschen Ort» zugenagelt wird. Nach dem Aufwachen lebt Semprún mit einer neuen Identität, die ihn retten wird. Der Traum nimmt den Identitätswechsel voraus: Er trägt nicht mehr den todbringenden Namen seiner Mutter.
Über Jahrtausende glaubten die Menschen, dass Träume Botschaften aus der Welt der Götter übermittelten oder die Zukunft des Träumers prophezeiten. Barbara Hahn zeichnet nach, wie sich die Träume im 20.Jahrhundert von ihrer prophetischen Deutung emanzipierten und zu einer eigenständigen literarischen Gattung wurden. 1904 erschien vermutlich das erste Traumtagebuch. Daneben, so Hahn, begann die Literatur selber mit den Funktionen des Traums – etwa Verschiebung, der Aufhebung von Zeit und Raum – zu arbeiten, um den Erschütterungen des 20.Jahrhunderts Ausdruck zu verleihen. Kafkas Verwandlung, so Hahn, beginnt nicht zufällig mit der Feststellung «Es war kein Traum».
Das Interesse an Träumen als historischem Archiv ist nicht neu. Bereits zu Beginn des Naziregimes begann die jüdische Journalistin Charlotte Beradt, Träume ihrer Zeitgenossen zu sammeln und zu kommentieren. Erst 1966 erschien diese Traumsammlung erstmals unter dem Titel Das Dritte Reich des Traums. Parallel zu ihrem Essay hat Barbara Hahn Beradts Dokumentation neu herausgegeben und mit einem Nachwort versehen.
Hahn begibt sich in Endlose Nacht auf die Suche nach dem «verborgenen, immer unerreichbaren Ort», an dem die Erfahrungen von Gewalt, Krieg und Zerstörung weiterleben. In den Träumen von Theresienstadt, Buchenwald und Auschwitz sieht sie die Erinnerung bewahrt. Mit ihren Traumstudien gelingt ihr eine erschütternde Unheilsgeschichte des 20.Jahrhunderts – und ein Manifest gegen das Vergessen. Ihren Essay widmet sie ihrer Tante Erna Rüb, die 1945 mit nur 22 Jahren in einem Lager im russischen Archangelsk ums Leben kam.
Barbara Hahn: Endlose Nacht. Träume im Jahrhundert der Gewalt. Suhrkamp-Verlag 2016; 201 Seiten; 31.50 Franken.
Charlotte Beradt: Das Dritte Reich des Traums. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Barbara Hahn. Suhrkamp-Verlag 2016; 174 Seiten; 31.50 Franken.
Susanne Leuenberger ist Redaktorin bei bref.