Der ehrliche Klappentext

«Doktor Hirschfelds Patient» von Nicolas Verdan

Vor rund hundert Jahren gründete der Arzt Magnus Hirschfeld in Berlin sein Institut für Sexualwissenschaft, heute gilt er als Pionier der Schwulen- und Lesbenbewegung. Im Krimi «Doktor Hirschfelds Patient» des Westschweizer Autors Nicolas Verdan wird die Patientenliste des Sexologen zum Anlass einer abenteuerlichen Jagd.
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Autor: Tom Kroll
Freitag, 13. Mai 2022

Ein SS-Mann schleicht 1933 durch die Nacht und bricht in ein sexualwissenschaftliches Institut ein. Er ist auf der Suche nach einer Patientenliste, die ihn als «Perversen» outen und vor das Erschiessungskommando bringen könnte.

Zeitsprung: In Tel Aviv wird der jüdische Rechtsanwalt Karl Fein 1958 vom Mossad vorgeladen. Die Agenten suchen ebenfalls die Patientenliste des Institutsleiters Magnus Hirschfeld. Sie jagen einen SS-Kriegsverbrecher, der Deportationen befehligt und Jüdinnen vorher ihre Zöpfe abgeschnitten haben soll. Sie meinen, auf der Spur eines sadistischen Fetischisten zu sein, dessen Identität aus der besagten Liste hervorgehen könnte.

Mit diesen beiden parallelen Handlungen beginnt der Krimi «Doktor Hirschfelds Patient» des West­schweizer Autors Nicolas Verdan. 2011 auf Französisch erschienen, liegt das Buch nun erstmals in deutscher Übersetzung vor. Der Titel geht auf den deutschen Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld zurück. In den Goldenen Zwanzigern galt dieser als Autorität in Fragen der sexuellen Orientierung; sein 1919 in Berlin gegründetes Institut für Sexualwissenschaft genoss Weltruf.

Hirschfeld war Begründer der modernen Schwulen- und Lesbenbewegung, die sich für die Abschaffung des Paragrafen 175 im Strafgesetzbuch der Weimarer Republik einsetzte. Der «Schwulen-Paragraf» stellte Homosexualität unter Strafe. Hirschfelds Institut war Be­ratungsstelle für Schwule, Lesben, Crossdresser und Fetischisten – für all jene also, die wegen ihrer sexuellen Identität unterdrückt und später in den KZ eingesperrt und ermordet wurden. Im liberalen Berlin der zwanziger Jahre muss die Liste von Menschen, die bei Hirschfeld Rat suchten, lang gewesen sein. Verdan stellt sie – oder besser gesagt: die Jagd nach ihr – ins Zentrum seiner Erzählung.

Eine der Hauptfiguren ist der fiktive SS-Mann Wilfried Blume, der ganz dem Wahn der Naziideologie verfallen zu sein scheint. Als Mitarbeiter des «Rasse- und Siedlungshauptamtes» verfolgt er schwule Soldaten innerhalb der Armee und bringt sie vor das Erschiessungskommando. Blumes Gattin liegt derweil mit Depressionen in der Nervenklinik, seit ihr Mann ihr sein Geheimnis verraten hat. Blumes wahnhafter Kampf gegen Schwule entpuppt sich nämlich als Kompensation: Der SS-Mann ist zerrissen zwischen Naziideologie und eigenem Begehren. Denn, so erfahren wir später, Blume fühlt sich als Frau und liebt Männer.

Während sich der Plot um den schwulen SS-Mann von der ersten Seite an abzeichnet, entfaltet der zweite Erzählstrang, in dem es um den Rechtsanwalt Karl Fein geht, eine stärkere Sogwirkung. Fein, Hirschfelds rechtlicher Berater, muss zunächst die Liste für die Mossad-Agenten sichern: Gemeinsam mit ihnen macht er sich auf den Weg nach Zürich zu einem Banksafe, in dem die Liste vor Kriegsbeginn eingelagert wurde. Nach erfolgreicher Mission verabschiedet sich Fein aus dieser Krimihandlung. Während die Agenten sich auf die Jagd nach Blume machen, reist Fein weiter nach Berlin, um alte Freunde zu finden. An dieser Stelle entfaltet der Autor gekonnt die Geschichte Feins, deren Handlung parallel zum Krimi läuft.

Während der Autor Fein das Berlin der Fünfziger erkunden lässt, liest man in Rückblicken von der Ver­gangenheit des Rechtsanwaltes – und vom Berlin der dreissiger Jahre. Fein tritt als Crossdresser in den Varietés der Stadt auf, während draussen schon die Braunhemden marodierend durch die Nacht ziehen. Mit ihm durchlebt der Leser den Naziterror, indem zunächst Hirschfelds Institut und seine Schriften zerstört – und dann Zehntausende, vor allem männliche Homosexuelle umgebracht wurden. Eindrücklich schildert der Autor aber auch, wie mit dem Ende der Naziherrschaft das Versteckspiel von Lesben und Schwulen weiter anhielt. Erst 1994 wurde der Paragraf 175 schliesslich aus dem deutschen Strafgesetzbuch gestrichen.

Nicolas Verdan: «Doktor Hirschfelds Patient». Aus dem Französischen von Hilde Fieguth. Die Brotsuppe, Biel 2022; 275 Seiten; 34 Franken.

  • N° 4/2022

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