Eigentlich hatte ich mir fest vorgenommen, nicht mehr auf politisch-gesellschaftlichen Humbug zu reagieren. Weil ich diese kleine Öffentlichkeit hier, zwischen Ihnen und mir, liebe und schätze. Weil ich hier das zur Sprache bringen kann, was woanders viel zu kurz kommt.
Ich hatte mir fest vorgenommen, nicht mehr zu reagieren, weil es sich einfach nicht lohnt. Weil in diesen Symboldebatten eigentlich alles Wesentliche schon gesagt worden ist. Weil alle relevanten, besonnenen Argumente, Daten und Fakten bekannt sind. Weil ich keine intellektuelle Putzfrau bin, die täglich den ideologischen Müll anderer wegräumen muss. Und so jagt tagein, tagaus eine unsägliche, faktenbefreite Islamdebatte die nächste, ohne grossen Erkenntnisgewinn, ohne dass wir einen Schritt vorankämen, ohne dass wir irgendeinen greifbaren konstruktiven Handlungsansatz entwickelt hätten. Dafür aber mit umso mehr gefühlten Wahrheiten über diese Religion.
Während ich hier diese Worte tippe, wird in Deutschland erregt diskutiert, ob man nicht jungen Mädchen das Kopftuch gesetzlich verbieten solle. Ich frage Sie: Kennen Sie kluge Menschen, die ernsthaft meinen, in dieser Sache sei seit Jahrzehnten alles versucht worden und alles gescheitert und nun müsse als letzter Ausweg der deutsche Staat herbeigerufen werden, damit er mit einem verfassungswidrigen Gesetz dieser grassierenden Kinderkopftuchsturmwelle endlich ein Ende bereitet? Ich nicht.
Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich finde nicht, dass junge Mädchen Kopftücher tragen sollten. Darum geht es mir aber nicht. Mir leuchtet nur diese Eskalationsstufe nicht ein. Haben sämtliche Pädagogen aufgegeben? Sind alle Initiativen gescheitert? Gibt es eine überraschende Wendung – ein Orkan von Kindern, die nun mit Kopftuch in der Schule antanzen? Kaum. Was mir aber einleuchtet: Diese «Eskalation» ist ein politisches Instrument, eine Symboldebatte, wie sie im Buche steht.
Und so kommt es – wie Sie anhand der bisherigen Worte unschwer erkennen können, dass ich nun also doch reagiere auf eine dieser vielen unsäglichen Debatten. Und zwar: wütend. Wütend über den desaströsen Zustand unserer Debattenkultur. Wütend darüber, dass so viel Zeit, Energie und Ressourcen darauf verschwendet werden, in all dem Geschrei ein wenig Klarheit und Ruhe zu schaffen. Wütend, weil so viele meiner befreundeten Wissenschaftlerinnen sich inzwischen aus der tagespolitischen Diskussion zurückgezogen haben, die Hoffnung aufgegeben haben.
Ich breche all meine Vorsätze und empfinde Wut. Ich veräussere sie hier. Verschriftliche sie. Teile sie. Lebe sie. Und fühle mich dabei überraschend befreit.
War dies etwa das Problem der vergangenen Jahre? Dass Menschen wie ich, die in diesen Debatten eine doppelte Funktion innehatten, also nicht nur als Intellektuelle, sondern auch als Betroffene sprachen, ihre Betroffenheit negierten? Ihre Emotionen unterdrückten?
Wie oft hatte ich mit Menschen in Runden gesessen, die wohlwissend Falsches behaupteten, polemisierten, mich mit ihren Worten verletzten – ich hingegen zwang mich zu einem diplomatischen Lächeln und erklärte jedes Mal behutsam, an welchen Stellen ihre Aussagen nachweislich falsch waren. Nicht selten lobten mich hinterher Personen aus dem Publikum für meine Diplomatie und sagten, dass sie selbst nicht so geduldig und ruhig reagiert hätten.
Wie aber sollen Menschen wissen, dass sie verletzen, wenn die Verletzten ihre Wunden nicht zeigen? Und wie kann ein Verletzter Mensch sein, wenn er stets ohne Emotion, ohne Gefühl reagiert?
Diese Debatten zerreissen Menschen, die sich zugehörig fühlen, sich engagieren, sich bemühen. Sie tun weh und verletzen. Doch erst das Erkennen und Veräussern der Verletzung, der Gefühle, der Wut, macht uns menschlich. Denn es sind unsere Emotionen, unsere augenscheinlichen Schwächen, die uns Leben geben. Sie sind es, die uns befreien.