Was richtet Gewalt, auch ererbte, im Menschen an? Wie lässt sich mit all den Toten weiterleben – und wie lieben? Die Geschichte seiner Vorfahren, die in drei aufeinanderfolgenden Kriegen durch deutsche Hände fielen, lastet schwer auf den Schultern des namenlosen französischen Ich-Erzählers. Wie der Autor Mathieu Riboulet selbst ist dieser homosexuell und weit über vierzig, als er erstmals nach Köln reist, um sich dieser traumatischen Vergangenheit zu stellen. Hier trifft er auf den Deutschen Andreas – und wird dessen Liebhaber.
Die homoerotische Begegnung ist kein Zufall, sondern gewollt, der Erzähler sucht die reale Berührung mit deutschen Körpern. Im Verlauf des Romans trifft er so in einem Berliner Sexclub gemeinsam mit Andreas auf Dieter, später kommt er dem jungen Deutschkurden Tajdin, der sich prostituiert, nahe. Das klingt zunächst nach plumper Pornografie, ist es aber nicht, denn für Riboulets Ich-Figur geht es um mehr als Sex. Er folgt der Spur deutsch-französischer Feindschaft bis in die Tiefen seiner Phantasie. In der körperlichen Intimität der Männer treffen Gesten der Lust auf ererbte Erfahrungen physischer Vernichtung: Für einen Augenblick wähnt der Ich-Erzähler in Andreas den Wehrmachtssoldaten, der ihn umgebracht hätte – ein Schreckensszenario, das sich mit einem Kuss und dem Lachen der Liebenden wieder verflüchtigt.
Doch für den Erzähler bleibt die dunkle Frage: «Was ist da im Körper des anderen, das ich im Begehren so fieberhaft besitzen will, und das ich im Kampf ausmerzen will?» Die Hände, die heute Lust bereiten, können ebenso verwunden und zerstören. In Rückblenden beschreibt er das Dorf seiner Urgrossmutter Florine, das die aufeinander folgenden Weltkriege einst um alle Männer brachten. Ein Ausflug zum Holocaust-Mahnmal in Berlin wiederum konfrontiert ihn mit der prekären Existenz von Homosexuellen im Dritten Reich. Als Verräter am deutschen Volkskörper waren sie dem Tod geweiht. Beim Rückzug aufs französische Land, eben zurück aus Deutschland, begegnet er schliesslich dem jungen Aussteiger Adrien, mit dem er eine platonische Freundschaft beginnt. Adrien litt unter dem gewalttätigen Vater, der sich schliesslich umbrachte. Die Hände des Sohnes tragen die Narben eines orientierungslosen Lebens auf der Strasse. «Wie die Wunde des anderen berühren?» lautet hier die Frage des Protagonisten.
Riboulets Verwebung von Zeit- und Erzählebenen, von Kunstbetrachtung, Liebesszenen und Schreckensvisionen erzeugt beim Lesen einen hypnotischen Sog. Die Grenzen zwischen Lust und Zerstörung verschwimmen. Nirgends wird dies greifbarer als in den Meditationen des Protagonisten über Körper und Hände seiner Liebhaber. So erkennt er in Andreas die entrückte Schönheit, mit der Caravaggio einst den Henker des Johannes auf die Leinwand bannte: Weitgehend nackt, von einem fahlen Licht erhellt, konzentriert in seiner tödlichen Arbeit. Die Sprache ist explizit und schonungslos, aber so berührend wie die Tiefe und Ernsthaftigkeit, mit der Riboulet die Frage stellt, wie es sich mit der ererbten Feindschaft weiterleben und weiterlieben lässt.
Riboulet nannte sein Buch Die Werke der Barmherzigkeit. Er orientierte sich dabei an den christlichen Tugenden der Sorge um die Hungrigen, Armen, Fremden und Toten. In seinem Roman sind es die Hände der Liebhaber, die sich auf die ererbten Wunden legen. Doch auch sie können die Geschichte nicht wiedergutmachen. Es bleibt ein dunkler Rest im menschlichen Begehren. Für seinen Roman hat der Filmemacher und Schriftsteller Mathieu Riboulet in Frankreich den bekannten Prix Décembre erhalten.
Mathieu Riboulet: Die Werke der Barmherzigkeit. Secession-Verlag; Zürich 2016; ca. 150 Seiten; 22 Franken.
Susanne Leuenberger ist Redakteurin bei bref.