Linder liest

Die Krone der Schöpfung

Adieu, Menschheit. Der Moment der Wachablösung ist gekommen: Die Künstliche Intelligenz macht es nicht nur besser, sondern auch noch schneller.
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Autor: Lukas Linder
Illustration: Sören Kunz
Freitag, 17. März 2023

Diesen Text habe ich selber geschrieben. Habe ich das wirklich?

Von der «New York Times» bis zum «Toggenburger Tagblatt» war letztens viel vom neusten Schrei aus dem Silicon Valley zu lesen. Es handelt sich um einen Chatbot mit künstlicher Intelligenz, der Fragen binnen Sekunden beantworten kann, indem er Informationen aus dem Internet saugt und kombiniert. Das erlaubt ihm, E-Mails zu beantworten, Aufsätze zu schreiben oder auch ein Gedicht zu verfassen. Mit anderen Worten, er tut, was wir auch tun, nur schneller. Adieu, Menschheit. Der Moment der Wachablösung ist gekommen.

Wir ahnten schon, dass wir wohl doch nicht die Krone der Schöpfung sind, seit wir diesen gratis IQ-Test im Internet sieben Mal wiederholen mussten, um auf ein durchschnittliches Resultat zu kommen. Die Krone der Schöpfung heisst GPT, was so viel bedeutet wie Generative Pre-Trained Transformer. Besonders poetisch ist das nicht. Aber genau wie die Menschheit gehört auch die Poesie der Vergangenheit an. So langsam dämmert uns, dass Leute wie Shakespeare, Schiller, Goethe bloss Zudiener einer technologischen Revolution waren, die jetzt ihre Vollendung findet, genau wie die Dinosaurier bloss gelebt haben, damit wir sie ­später in «Jurassic Park» erleben durften.

Als ich von GPT und seinen Fähigkeiten hörte, habe ich sofort eine Flasche Champagner aufgemacht. Endlich bin ich von der Last der Arbeit befreit. Ich muss diese Kolumne nicht mehr selber schreiben, genauso wenig wie meinen neuen Roman oder diese Sammlung er­­le­sener Haikus, die ich seit längerem in Vorbereitung habe. Ja, sogar die Weihnachtskarten an die Familie habe ich damit vom Hals. GPT macht es schneller und vermutlich sogar besser, denn er gibt dem Leser, was er von einem Autor erwartet: Wiedererkennungswert.

Tatsächlich ist der Chatbot nur die Speerspitze eines gesellschaftlichen Umbruchs, der schon länger im Gange ist und zu dem die Apple-Software Siri genauso dazu­gehört wie die Idee selbstfahrender Autos. Es geht um nichts weniger als die Befreiung des Menschen von seinem Leben. «Wir werden weniger arbeiten müssen», sagte Bill Gates neulich in einem Interview mit dem «Handelsblatt», in dem er der Menschheit allgemein eine rosige Zukunft prophezeite. Vermutlich handelt es sich um dasselbe Wir, das sich dann so richtig mit den Auswirkungen des Klimawandels herumschlagen muss, aber lassen wir das an dieser Stelle und einigen wir uns darauf, dass die Zukunft rosig wird, sofern es überhaupt eine ­geben wird.

Die Aussage des Microsoft-Gründers spielt auf einen alten Lieblingsgedanken an. Schon im Jahr 1928 kam der Ökonom John Maynard Keynes zum Schluss, dass aufgrund des technischen Fortschritts die Generation seiner Enkel nur noch 15 Stunden die Woche werde arbeiten müssen. Mal abgesehen davon, dass sich diese Prognose nicht so ganz erfüllt hat: was sollen die Menschen mit der vielen Freizeit anfangen? Und plötzlich schmeckt der perlende Champagner, als wäre er pures Rattengift, denn mir ist ein entsetzlicher Gedanke gekommen: Sie werden doch nicht etwa … genau so leben wie ich!

Ich bin Schriftsteller geworden, damit ich meine Ruhe vor den Menschen habe. Die Teilzeit-Arbeit hat mir bereits schwerwiegenden Schaden zugefügt. Auf einmal lungerte alle Welt unter der Woche im Café herum, ­erfrechte sich, noch einen zweiten Cappuccino zu bestellen oder gar ein Glas von meinem weissen Merlot! Wenn jetzt alle auch tagsüber ins Schwimmbad gehen, die ­Antiquariate nach Erstausgaben absuchen und den Rentnern stundenlang beim Boule-Spielen zuschauen, dann kann ich nicht mehr leben. Dann kann ich nicht mehr denken. Dann kann ich nicht mehr schreiben. Doch da kommt es mir in den Sinn: Ich muss ja gar nicht mehr schreiben. Das macht ja jetzt mein Chatbot!

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