Dass in der Hagia Sophia wieder islamischer Gottesdienst gefeiert wird, sollte die Christenheit gut finden, schreibt Roland Diethelm.
1935 liess Mustafa Kemal Atatürk, Gründer der modernen Türkei, die als Moschee genutzte Hagia Sophia in Istanbul in einem beispiellosen Akt säkularisieren und in ein Museum umwandeln. 2020 machte der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan den Beschluss seines bekanntesten Vorgängers rückgängig. Er verfügte, dass die Touristenattraktion wieder zur Moschee wird. Am vergangenen 24. Juli war es so weit: Erstmals ertönte nach 85 Jahren Museumsbetrieb wieder das Freitagsgebet aus der Hagia Sophia. Mit dabei Erdoğans Religionsminister Ali Erbas, der während seiner Predigt martialisch ein Schwert in der Hand hielt.
Die Geste offenbarte unverhohlen die Geisteshaltung der Aktion: Schaut her, wir fühlen uns mit den Osmanen im 15. Jahrhundert verbunden, die Konstantinopel, das heutige Istanbul, eroberten. Mit ihrem Einmarsch in die Stadt im Jahre 1453 wurde auch die im 6. Jahrhundert als byzantinische Kathedrale erbaute Hagia Sophia zur Moschee umfunktioniert.
Die Umwandlung zur Moschee ist Erdoğans Geschenk an seine konservativ-islamische Anhängerschaft, die sich in der von ihm geführten muslimischen Partei AKP sammelt. Sie ist ein klares Signal gegen die türkische Republik Atatürks und ihren Laizismus. Dass Erdoğan mit der martialischen Geste die von ihm ausgesprochene Einladung an Papst Franziskus, gemeinsam ein interreligiöses Gebet in der wieder als Moschee genutzten Hagia Sophia zu halten, konterkariert, scheint ihn nicht weiter zu stören.
Vor gut zehn Jahren lauschte ich in einem Seitenschiff der Hagia Sophia dem Mozartrequiem. Während ich die wertvollen Mosaiken und Fresken bewunderte, erinnerte ich mich an das, was sich hier zu Beginn des 13. Jahrhunderts ereignete. Im Auftrag der Venezianer zog ein französisches Söldnerheer aus, um Ägypten zu erobern und dabei «das Heilige Land der Christen von den muslimischen Arabern zu reinigen».
Im vierten Kreuzzug schändeten die Söldner stattdessen Konstantinopel, die griechisch-orthodoxe Hauptstadt des byzantinischen Reichs. Der Grund: Die Venezianer sahen in Byzanz einen wirtschaftlichen Konkurrenten, den es in Schach zu halten galt. In der Folge wurde das byzantinische Reich immer schwächer; der Einmarsch der Osmanen und die Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee waren nach dem schweren Schlag nur noch eine Frage der Zeit.
Die lateinische Kirchenmusik Mozarts muss, so meine Vorstellung, die Mauern der Hagia Sophia schmerzvoll an die grässlichen Taten der Venezianer erinnern. Während der Generalpausen des Requiems hörte ich zornige «Allahu Akhbar!»-Rufe von der Strasse, die zu uns in den Sakralraum drangen. Sie liessen das Publikum, offensichtlich der türkischen Oberschicht zugehörig, ihre Zukunft mehr befürchten als erahnen.
Dass in der Hagia Sophia seit über fünfhundert Jahren keine christlichen Gottesdienste mehr gefeiert werden können, ist für die Christenheit schmerzhaft: Gehören doch Gotteslob und menschliches Seufzen in diese Mauern, und nicht Blitzlichter und Selfie-Stöcke. Darum könnten wir es als Abrahams Kinder auch einfach gut finden, dass in der Hagia Sophia wieder islamischer Gottesdienst gefeiert wird, und zugleich stoisch Erdoğans giftigen Populismus ignorieren, der das möglich macht. Ich bin mir sicher, dass die türkische Gesellschaft irgendwann wieder Kräfte der Versöhnung statt der Hetze an die Macht bringen wird.
Dann möge Gott es geben, dass in diesem herrlichen Sakralraum alle Kinder Abrahams Gott die Ehre geben dürfen. Und spätestens dann kann Papst Franziskus auch die Einladung zum gemeinsamen Gebet annehmen und sein orthodoxes Pendant Bartholomaios 1. gleich mitnehmen. Die Mauern der Hagia Sophia werden mitbeten und jubeln.