Überschätzt – Unterschätzt

Die Gnade

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Freitag, 18. März 2022

Es herrscht Krieg in Europa. In solch furchtbaren Zeiten erhält die Gnade ein noch grösseres Gewicht, wenn die Barbarei nicht über die Menschlichkeit siegen soll. Wenn unser eigenes Leben oder das unserer Liebsten bedroht wird, erflehen wir Gottes Gnade, auf dass er uns vor dem Schlimmsten bewahre.

Doch dieses Flehen birgt eine Krux: Uns selbstbestimmte Wesen stört, dass wir dem Wohlwollen einer höheren Macht ausgeliefert sind. Wir sind es gewohnt, uns allein auf unsere eigenen Erfolge zu verlassen. Unser funktionales Denken – hier Leistung, dort Gegenleistung – hat uns vergessen lassen, dass Gott uns mit seinem Gnadenangebot ein riesiges Geschenk gemacht hat. Es ist die Brücke, die uns zum Heil führt – eine Gunst, die wir nur dankbar annehmen müssten. Doch so einfach ist es nicht. Wie geht das, ein solches Geschenk zu empfangen und sich dabei gleichzeitig frei zu fühlen?

Die Radikalität der Reformation entzündete sich genau an dieser Frage. War man sich mit den Katholiken noch darüber einig, dass die Gnade Gottes das Fundament des christlichen Glaubens bildet, knüpften Martin Luther und Huldrych Zwingli den Gnadenbegriff an die Freiheit der Entscheidung. Nimmt der Gläubige sich die Freiheit, die Gnade anzunehmen, macht ihn diese Gnade frei. Klarer als bei Zwingli lässt es sich kaum formulieren: «Lasst euch nicht mehr ins Joch der Hörigkeit und der Sklaverei einspannen.» – «Ihr wisst, wie viel Gewissenskonflikte wir durchlitten, als sie uns von einer falschen Hoffnung zur anderen nicht befreiten noch zuversichtlich stimmten. Jetzt aber seht ihr, wie viel Freiheit und Zuversicht ihr habt in der neuen Erkenntnis und im Vertrauen auf Gott allein …»

Diese Erkenntnis wird besonders wichtig in einer Phase der äussersten Bedrängnis, wie wir sie gerade erleben, wenn keine zweitausend Kilometer weiter östlich Männer, Frauen und Kinder in der Ukraine unter Beschuss geraten.

Das kennen wir doch alle: Es ist leichter, sich gnädig zu erweisen, als Gnade zu erfahren. Die Menschen vergeben sich im Grunde nichts, wenn sie untereinander Gnade walten lassen. Sie fühlen sich vielmehr dadurch in ihrer Souveränität umso mehr bestärkt. Sich zu sonnen in der eigenen Macht hat mit der alles umspannenden göttlichen Gnade nichts zu tun. Letztere wirkt auch dann noch, wenn jegliche Barmherzigkeit längst ausgeschöpft ist.

Und: Gnade vor Recht ergehen zu lassen, wie die Redewendung besagt, bedeutet nicht, Freibriefe in einer Art volatilem Gnadenhandel auszustellen. Für den selbstherrlichen neuen russischen Zaren auf Kriegskurs wird es keinen Ablass geben, mit dem er sich freikaufen kann – gnade ihm Gott.

  • N° 2/2022

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