Aus der Herzkammer

Die alte Frau und das Meer

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Autor: Ramin Nikzad
Freitag, 14. Februar 2020

Am Telefon mit meinem Vater, der gerade im Iran ist bei meiner Oma Aghdas:

«Wie geht’s dir, mein lieber Sohn?»

«Mir geht’s gut. Wie geht’s dir? Wie geht’s Oma?»

«Man khubam azizam (mir geht’s gut, mein Lieber), und deiner Oma geht es auch gut, khodá shokr (gottseidank), sie hat keine Schmerzen und isst und schaut fern und … ja … so weit muss man zufrieden sein …»

«… Mhm …»

«… Aber, Rámin-ján, ich wollte dich fragen: Manchmal ist sie plötzlich so abwesend. Da schaut sie aus dem Fenster. Schaut aufs Meer. Und ist nicht ansprechbar. Du kennst deine Grossmutter! Sie kriegt doch sonst immer alles mit! Wie eine Katze sieht sie alles und hört sie alles! Und sie redet doch ununterbrochen. Du kennst sie doch. Sie redet ununterbrochen …»

«Ja, das stimmt, Papa …»

«… Aber jetzt redet sie so wenig. Sie … sie redet fast gar nicht mehr, weisst du. Sie sitzt da und schaut aus dem Fenster. Schaut aufs Meer. Und sagt nichts. Rámin-ján, kann das von ihren Medikamenten sein? Von den blutverdünnenden Medikamenten, die sie nimmt, oder von ihren Blutdruckmedikamenten? Weil, weisst du, so kenne ich sie nicht …»

Ich kenne meine Oma Aghdas auch nicht so. Ich kenne sie als hyperaktive, laute, gesprächige und sehr gegenwärtige Frau. Vergangenheit und Zukunft waren nie so ihr Ding. Aber das Hier und Jetzt hatte sie immer voll drauf, es war immer ihr Metier.

«… Die Mama hat mir heute erzählt, dass sie heute früh mit Oma geskyped hat und die Oma hat sofort gesagt: ‹E! Tabkhál gerefti ke, Elfi-ján! Mage marizi? Báyat bishtar miwe bokhori, azizam!› (Oh! Du hast ja eine Fieberblase, liebe Elfi! Bist du denn krank? Du musst mehr Obst essen, meine Liebste! – Tatsächlich hat meine Mutter gerade einen grippalen Infekt.) Also so abwesend ist sie ja eh nicht …»

«… Ja, da hast du recht …» sagt mein Vater und lacht. Aber es ist ein trauriges Lachen.

«… Weisst du Papa, die Oma ist dreiundneunzig, und da ist das ganz normal, dass man ruhiger wird und nicht mehr so viel Energie für seine Mitmenschen hat. Und es sind sicher keine Nebenwirkung von ihren Medikamenten.»

«… Ja, sie ist alt … Das stimmt. Sie ist sehr alt …»

Meine Oma Aghdas hat fünf Kinder in die Welt gesetzt, und diese fünf Kinder haben zehn Enkelkinder in die Welt gesetzt, und sie alle, ihre fünf Kinder und zehn Enkelkinder, sind alle gegangen.

Sind alle weggegangen von ihr.

Wir sind alle in einen anderen Kontinent und in eine andere Welt und in ein anderes Leben hineingegangen.

Und sie sitzt jetzt in Nordpersien in ihrem Rollstuhl, als Witwe, als dreiundneunzigjährige alte Frau und schaut aus dem Fenster.

Schaut aufs Meer.

Ihre Kinder lösen einander ab. Immer ist eines bei ihr. Alle drei Wochen steigt eines ihrer Kinder in Wien ins Flugzeug nach Teheran, während zeitgleich ein anderes in Teheran in einen Flieger nach Wien steigt.

Meine Oma sitzt in ihrem Rollstuhl, denn ihr Körper geht den Bach runter.

Ihr Ehemann ist den Bach runtergegangen.

Ihre Kinder und Enkelkinder sind alle den Bach runter und nach Europa hineingegangen.

Und ihr Land geht den Bach runter.

Sie schaut aus dem Fenster.

Sie schaut aufs Meer.

Das Meer war immer da. Und das Meer war immer wie das Meer. Immer gleich. Immer da.

Und das Meer bleibt.

Denn das Meer kann nicht weg. Es muss bleiben.

So wie sie.

Nachtrag: Am 27. Januar ist Aghdas Razavi im Beisein all ihrer Töchter und Söhne in ihrem Geburtsort Babolsar, Iran, verstorben. Sie wurde 94 Jahre alt.

  • N° 3/2020

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