Selbst Heilige und Propheten waren nicht frei von Zorn, weder die alten Götter noch der biblische Gott hatte so viel Selbstbeherrschung. Mit Zorn ist schwer umzugehen: Frisst man ihn in sich hinein, nagt er an der Seele und macht krank. Lässt man den Furor ungezügelt heraus, halten einen die Leute für einen kulturlosen Barbaren, der seine Gefühle nicht im Griff hat. Gerade in unserer heutigen Teamplayer-Kultur soll man bei Kränkungen oder Ungerechtigkeiten unbedingt die Contenance bewahren. Wer das nicht schafft, soll eine Therapie machen. So werden extrem wütende Kinder schnell zu «Systemsprengern», die man angeblich vor sich selbst und vor anderen schützen muss. «Wo kämen wir da hin, wenn jeder seinen Gefühlsausbrüchen freien Lauf lassen würde?» heisst es dann.
Dabei sollten wir alle mehr Zorn wagen und unserem Unmut Luft verschaffen. Psychologen und Psychiater haben erforscht, dass ein entbrannter Zorn auch eine gesunde Seite haben kann: Er steckt klare Grenzen, entlädt die innere Spannung und liefert konstruktive Hinweise auf die schwelenden Konflikte in unserem Verhalten zueinander. Das hat etwas ungemein Befreiendes. Anthropologen sagen sogar, ohne Zornausbrüche, die das Gegenüber einschüchtern und in die Flucht schlagen, hätten sich unsere Vorfahren noch viel häufiger die Köpfe eingeschlagen. Zorn ist also auch ein gutes Warnsignal, das vor weiterer Eskalation schützen kann.
Bei Zorn geht es allerdings auch immer um die Frage von Macht. Der Jähzorn eines Gewaltherrschers hat verheerende Folgen, wie sich in der Geschichte zeigte. Ihn kann niemand aufhalten. Genauso wenig wie einen Amokläufer, in dem sich Hass und Wut angestaut haben und der nun ein Ventil sucht dafür.
Damit der Zorn des Volkes nicht zum Pulverfass wird, hat die britische Monarchie vor Jahrhunderten bereits eine Sperrvorrichtung in ihren Machtapparat eingebaut: Bei der kürzlichen Krönungszeremonie Charles III. in der Londoner Westminster Abbey wurden dem designierten König gleich zwei Zepter feierlich überreicht. In der rechten Hand hielt er einen mit Edelsteinen besetzten Stab als Zeichen für seine weltliche Autorität. Das Zepter in der Linken jedoch, die zum Herzen führt, schmückte lediglich eine schlichte Taube. Sie verwies auf die durch den Heiligen Geist gesandte göttliche Barmherzigkeit, die der Herrscher nie aus den Augen verlieren soll. Das Besondere daran: Charles trug nur an der rechten Hand einen Handschuh. Wer die Macht hat, darf sie also nur mit Samthandschuhen anfassen. Und keinesfalls allzu zornig werden.