Der Verrat zählt zu den unverzeihlichsten Verbrechen, die Menschen einander antun können. Ganz gleich ob im Politischen oder Privaten: Wir alle reagieren betroffen, wenn wir von jemandem, dem wir unser Vertrauen schenkten, hintergangen werden. Gelegentlich kann ein Verrat aber auch ein Licht auf Missstände werfen, die ohne ihn im Dunkeln fortbestanden hätten. Der Hitler-Attentäter Claus Schenk Graf von Stauffenberg war aus Sicht militärischer Rechtsprechung ganz klar ein Verräter. Bis sein Versuch des Tyrannenmordes in Deutschland als lupenreine moralische Heldentat gewertet wurde, dauerte es eine Weile. Wilhelm Tell hatte es in der Schweizer Öffentlichkeit etwas leichter. Aber was ist mit all den Whistleblowern, wie etwa dem ehemaligen CIA-Mitarbeiter Edward Snowden? Der machte 2013 Tausende geheime Dokumente über die weltweite Überwachung durch britische und US-Geheimdienste öffentlich. Heute lebt er im Exil, die US-Behörden verlangen seine Auslieferung. Gleichzeitig wurde er 2016 für den Friedensnobelpreis nominiert. Oder der Wikileaks-Gründer Julian Assange, der interne Berichte über Menschenrechtsverletzungen im Afghanistan- und Irakkrieg ins Netz stellte? Von seinen Anhängern gefeiert, fordern die USA auch seine Auslieferung. Wer will hier ein Urteil fällen?
Es heisst, dass der Verräter von niemandem geschätzt wird, selbst von denen nicht, die von seinem Verrat profitieren. Dahinter steckt der Verdacht, dass der Verräter bei nächster Gelegenheit zum Wiederholungstäter wird. Er gilt als vertrauensunwürdig, man bedient sich seiner, aber verachtet ihn dafür.
Wie sehr mit dem Vorwurf des Verrats Schindluder getrieben werden kann, zeigt sich an der Figur des Judas. Seit Christus’ Tod ist er eindeutig die am meisten gehasste Gestalt in der Bibel. In der russisch-orthodoxen Kirche fasten die Strenggläubigen jeden Mittwoch im Gedenken an seinen Verrat. Der über 2000 Jahre alte religiöse Antijudaismus wird so weiterhin im kulturellen Gedächtnis gehalten. Das ist fatal, wo doch Judas in Wahrheit ein äusserst tragischer Protagonist eines göttlichen Heilsplans war. Ohne seine Rollenbesetzung gäbe es letztlich keine Erlösung. Auch Jesus wusste, dass seine Auslieferung vorbestimmt war. Ohne Judas zu erwähnen, weist er bei seinem letzten Abendmahl auf den vorgezeichneten Weg hin. Bei Markus 14,21 steht: «Der Menschensohn geht zwar dahin, wie über ihn geschrieben steht, doch wehe dem Menschen, durch den der Menschensohn ausgeliefert wird. Für diesen Menschen wäre es besser, wenn er nicht geboren wäre.» – Ein vernichtendes Urteil. Sollten wir uns nicht gerade deswegen Judas’ erbarmen?