Es ist nicht lange her, dass die westliche Gesellschaft vom Ende der Geschichte träumte. Mit dem Zerfall der Sowjetunion schien sich die kapitalistische Marktwirtschaft im Kampf der Systeme endgültig durchgesetzt zu haben. Der Liberalismus wähnte sich als Sieger und glorreicher Endpunkt der Geschichte. Dieser Traum zerplatzte mit den Flugzeugen, die am 11. September 2001 in das World Trade Center donnerten. Mit dem islamistischen Fundamentalismus tauchte ein neuer Gegner des Westens auf, der nicht nur mit unglaublicher Brutalität vorging, sondern darüber hinaus von einem ideologischen Wahnsystem angetrieben wurde, das mit dem Islam nur noch wenig zu tun hatte. War es ein Zufall, dass dieser Gegner gerade jetzt auftauchte, als sich der Westen in einer neuen Friedenszeit wähnte – frei von äusseren Bedrohungen und in der Hoffnung, ein für alle Mal «alle Widersprüche überwinden und alle Bedürfnisse befriedigen zu können», wie es Francis Fukuyama in seinem Aufsatz vom «Ende der Geschichte» ausdrückte?
Keineswegs, meint der britische Literaturwissenschaftler und Linkskatholik Terry Eagleton in seinem neuesten Buch, «Der Tod Gottes und die Krise der Kultur». Für Eagleton ist klar, dass der Fundamentalismus eine Antwort auf die spirituelle Leere ist, die den westlichen Liberalismus seit Beginn der Postmoderne begleitet. Bereits 2008 schreibt Eagleton in der Zeit: «Fundamentalismus ist die instinktive Reaktion all jener, die von einer supersäkularen, oberflächlichen, rein technologischen Rationalität zu spirituellen Fanatikern gemacht wurden – weil diese Rationalität all unsere emotionalen und metaphysischen Fragen achtlos beiseitewischt und den Eiferern überlässt.» Für Eagleton entbehrt diese Diagnose nicht einer gewissen Ironie: Genau zu dem Zeitpunkt, als die westlichen Gesellschaften Gott scheinbar endgültig zu Grabe trugen, erhob sich ein neuer «Gott» in Form eines fanatischen Extremismus. Was war falsch gelaufen?
Um diese Frage zu beantworten, begibt sich Eagleton auf einen Streifzug durch 300 Jahre europäischer Geistesgeschichte, die in wesentlichen Punkten eine Geschichte der Religionskritik und der Dekonstruktion metaphysischer Ideen ist. Es sind nicht unbedingt neue Entdeckungen, die Eagleton macht, dennoch vermag seine Darstellung zu fesseln und liest sich phasenweise wie ein Krimi. Seine Hauptthese: Während die Religion seit ihrer Kritik durch die Aufklärer zunehmend an Bedeutung verlor, mussten die Leerstellen, die sie hinterliess, von den neuen herrschenden kulturellen Systemen bespielt werden. Aufklärung, Idealismus, Romantik und Moderne versuchten auf je eigene Weise, Funktionen von Religion zu übernehmen. Sie wurden – mindestens teil weise – zu Ersatzreligionen. In einer entzauberten Moderne waren es Kunst und Kultur, die lange erfolgreich zum Stellvertreter Gottes wurden und als letzter Hort so etwas wie spirituelles Erleben ermöglichten. Diese für die meisten westlichen Menschen letzte Bastion Gottes verschwand dann aber definitiv mit der Postmoderne. Sie ist für Eagleton die erste Epoche, in der radikal auf alles Absolute verzichtet wird – notabene auf Kosten jeglicher «spirituellen Tiefe».
Dass ausgerechnet die Postmoderne, die alle Metaphysik dekonstruiert und das Ende der «grossen Erzählungen» ausgerufen hat, besonders anfällig ist für religiöse Fundamentalismen, ist nur scheinbar paradox, meint Eagleton. Er sieht im Fundamentalismus einen «Racheakt» von Menschen, die sich nicht nur als Verlierer eines «raubgierigen Kapitalismus» wiederfinden, sondern sich zudem in ihren innersten Überzeugungen vor den Kopf gestossen fühlen. Die Abneigung der Postmoderne gegen jede Form von Dogma führte zu einem Ausschluss all jener Lebensformen, die in irgendeiner Weise noch an einem Absoluten hingen. Eagleton stellt sich damit in die Reihe jener Denker, die die doktrinäre Seite der Postmoderne kritisieren. Diese zeichne sich zwar durch ihren Fetisch der Differenz und des Andersseins aus, vermöge es aber nicht, ein «grosses Anderes» zu denken. Eagletons Buch bietet reichlich Material und Gedanken, um den westlichen Agnostizismus zu hinterfragen. Dagegen finden sich nur spärliche Ansätze dazu, wie die «Krise der Kultur» überwunden werden kann. Für einen Denker, der im Katholizismus und Marxismus wurzelt, ist das dann doch reichlich bescheiden.
Terry Eagleton: Der Tod Gottes und die Krise der Kultur. Pattloch; 288 Seiten; 28.90 Franken.
Heimito Nollé ist Redaktor bei bref.