Nora Gomringer

Der Schweizer Kurt Marti und die Weltpoesie

Die Seite wurde Ihrer Lesezeichenseite hinzugefügt. Klicken Sie auf das Menüsymbol, um alle Ihre Lesezeichen anzuzeigen. Die Seite wurde von Ihrer Lesezeichenseite entfernt.
Samstag, 13. Februar 2021

Poesie verbindet, aus Worten entstehen Freundschaften und Allianzen, schreibt Nora Gomringer. Etwa zwischen ihrem Vater Eugen Gomringer, dem Begründer der Konkreten Poesie, und dem Dichter Kurt Marti. Aber auch zwischen uns Lesenden heute.

Kurt Marti wäre am 31. Januar 100 Jahre alt geworden. In den sozialen Medien und in vielerlei Presse hat man seiner gedacht. Ein paar Tage zuvor wurde mein Vater Eugen 96. Ich kann mich erinnern, in seinem Archiv Briefe vom Kollegen Marti gesehen zu haben. Auf diese angesprochen, sagte er: «Er ist uns damals aufgefallen. Wir waren interessiert an ihm, dem Dichter Marti.» Marti bat um ein Treffen, und so fuhr mein Vater zu ihm in den Aargau.

«Ich war zwar jünger, aber Marti war angezogen von meiner poetischen Arbeit.» Sogar eine Lesung mit Gomringer, Marti, Bichsel gab es einmal. Mein Vater sagte aber auch: «Es wäre schön gewesen, wäre Kurt Marti dem internationalen Gedanken der Konkreten Poesie treu geblieben. Er ging dann aber einen anderen, einen sehr schweizerischen Weg.» Das Politische und Theologische, «der Pfarrer Marti», der habe ihn nicht mehr so interessiert.

Eugen Gomringer und Kurt Marti: Die beiden schrieben ihre Gedanken den 50er, 60er und 70er Jahren mit ihren Gedichten tief ein. Während mein Vater heute Sonette und kurze biografische Berichte in Prosa verfasst, sind Martis Altersgedichte unlängst im Buch «Hannis Äpfel» erschienen. Für das Nachwort dieser Sammlung las ich mich in die zähen, zarten, müden, augenzwinkernden und auch desillusionierten Gedanken des Dichters und Pfarrers, aber vor allem des Witwers Marti hinein.

Es ist ein Nachgesang an seine geliebte Frau. Gedichte, deren «Du » wir durch die Lektüre kennenlernen. Der Blick auf die Vermisste formt wieder ein Bild des Vermissenden. Man schliesst das Buch und vermeint, Marti etwas nähergekommen zu sein.

Zurück zu den Erinnerungen meines Vaters: Das «Wir», das er in der Antwort zu den Briefen an Marti verwendet, hat mich interessiert. Meint er die gesamte schriftstellerische Gemeinschaft oder die Dichter Konkreter Poesie im besonderen? Das Gefühl eines Gruppen-Wirs von Poetinnen! Wie beneidenswert. Das «Wir» meines Vaters vergeht mit jedem weiteren Zeitgenossen, der verstirbt.

Das bringt mich zur Freundschaft zweier anderer Literaten. Gerade durfte ich die Carl-Zuckmayer-Medaille entgegennehmen und mit ihr feststellen, dass der Schriftsteller Zuckmayer und der Theologe Karl Barth Freunde geworden waren. Letzterer neigte sich als «Fan» Zuckmayer zu und hatte seine Biografie mit Begeisterung gelesen («Als wär’s ein Teil von mir»). Barth suchte den Kontakt.

Den daraus entstandenen, öffentlich zugänglichen Briefwechsel erhielt ich von einem Fremden zugesandt. Zu meiner Freude offenbarte sich darin eine mir unbekannte, sehr authentische Facette Zuckmayers. Die Korrespondenz ermöglichte mir aber auch erhellende Auskünfte über sein Leben und seine Eindrücke des Zeitgeschehens der späten 60er Jahre in der Schweiz – eine wichtige Zeit auch im Leben meines Vaters.

Wie über Jahrzehnte Poesie und Prosa Allianzen formen können, das fasziniert mich. Wenige Literatinnen und Literaten sprechen so anerkennend übereinander wie die international agierenden Dichter der Konkreten Poesie. Und obwohl man vermeint, dass sie eine historische, abgeschlossene Bewegung ist, so arbeiten in jeder Generation neue Poetinnen und Poeten an neuen Formen. Dabei formulieren sie die Gedanken der Vor-Denker nicht grundlegend neu, sondern suchen nach einem anderem Ausdruck in der Fülle.

«Politisch ist er geworden und komplett auf die Schweiz bezogen. Für sein Land eben sehr wichtig», schloss mein Vater seine Gedanken über Marti. Darin schwingt auch ein bisschen Distanz mit. Während mein Vater international arbeitete und die Konkrete Poesie als neue Weltpoesie verstand, verwendete Marti mit grossem Feingefühl sein lyrisches Vermögen auf Predigten und Gedichte, die er zwischen die Menschen stellte, mitten in die Menge hinein.

Wir müssen seine Texte erinnern, wollen wir Martis Gedanken bewahren. Ah, siehe da! Ein neues «Wir» ist aufgetaucht. Schön.

Poesie verbindet, aus Worten entstehen Freundschaften und Allianzen, schreibt Nora Gomringer. Etwa zwischen ihrem Vater Eugen Gomringer, dem Begründer der Konkreten Poesie, und dem Dichter Kurt Marti. Aber auch zwischen uns Lesenden heute.

  • N° 1/2021

    CHF14.00 inkl. 2.6% MwSt.
    In den Warenkorb