Sein Geruch ist verstörend. Die einen erinnert er an Moder, andere provoziert seine Mischung «aus roten Chilis und dreckigen Socken», und für dritte ist er die reinste Offenbarung: der Matsutake. Der japanische Feinschmeckerpilz erzielt Spitzenpreise bis zu 2000 Euro das Stück und lockt Mensch und Tier in wildes Terrain. Bären wälzen auf der Suche nach ihm Baumstämme um, während Rothirsche blutige Schnauzen bekommen, wenn sie den scharfkantigen, bimssteinhaltigen Boden in Oregons Matsutake-Wäldern durchwühlen.
Das Grenzland im pazifischen Nordwesten der USA ist ein Magnet für Sammler und Händler des Matsutake. Ähnliches gilt für die Wälder Zentraljapans. Der Grund, schreibt Anna Lowenhaupt Tsing in ihrem Buch Der Pilz am Ende der Welt, ist der Niedergang der dortigen Holzindustrie: Holz aus den Industrieforsten musste mit der schnellen Abholzung anderer Länder konkurrieren. 1980 waren die Preise etwa für japanisches Holz so tief gefallen, «dass es sich niemand mehr leisten konnte, die Bäume zu schlagen».
In diese Lücke sprang der Matsutake. Er wächst bevorzugt auf verwüsteten Böden in verheerten Landstrichen und ist nicht kultivierbar. Als 1945 die Atombombe Hiroshima zerstörte, war das erste Lebewesen, das aus den verseuchten Böden wuchs, angeblich ein Matsutake.
Dieser Pilz braucht einen passenden Wirt. Etwa die japanische Rotfichte, die Sonnenlicht und mineralischen Boden benötigt, um zu keimen. Verhältnisse, wie sie nach der Abholzung anzutreffen sind. Auch Kiefern können in extremer Umgebung leben, weil sie mit Pilzen eine Lebensgemeinschaft eingehen. Wo kein organisch angereicherter Boden vorhanden ist, löst der Pilz Nährstoffe aus Sand und Gestein. Im Gegenzug lässt die Kiefer Kurzwurzeln nachwachsen, an denen die Myzelien, die fadenförmigen Zellen der Pilze, andocken können.
Der Matsutake etwa richtet sich unter ausgewachsenen Drehkiefern ein. Diese Art hat sich in Oregons Wäldern stark ausgebreitet, nachdem in den 1980er Jahren die begehrten Ponderosa-Kiefern fast flächendeckend abgeholzt worden waren und der gnadenlose Herbizideinsatz Millionen Hektaren Land kontaminiert hatte. Geopfert wurden ausserdem die Klamath-Indigenen. Auf die Enteignung ihres Bodens folgten in den 1950er Jahren die Aufkündigung ihrer Rechte und die erzwungene Assimilation in die amerikanische Gesellschaft.
Der Matsutake sei zwar der Star unter den Pilzen, doch wachse er auf den «Ruinen des Kapitalismus», lautet denn auch die These der Autorin in ihrem Buch. Es gründet auf Feldstudien in den USA, in Japan, Kanada, China und Finnland. Dort fand sich die Anthropologin zwischen 2004 und 2011 jeweils zur Matsutake-Saison ein, traf Wissenschaftler, Forstleute, Sammler und Händler und wurde selbst vom Pilzfieber befallen.
In den Wäldern Oregons stiess Lowenhaupt Tsing auf eine heterogene Gruppe von Sammlern. Gemeinsam ist ihnen die Gewalterfahrung. Der überwiegende Teil ist von Krieg und Flucht traumatisiert. Weisse Veteranen verherrlichen den amerikanischen Indochina-Krieg, während Hmong-Flüchtlinge aus Laos – ehemalige Söldner und Kindersoldaten – über das Pilzsuchen sagen, «es würde vom Krieg heilen». Alle rühmten sie die «Freiheit» dank dem Matsutake-Boom, schreibt die Autorin. Denn in den Wäldern liesse sich mit blosser Unerschrockenheit ein Auskommen erwirtschaften. Selbst die Kambodschaner «hätten die imperialen Kriege der USA schätzen gelernt», behauptet ein weisser Agent, der vor Ort die besten Stücke für den Export nach Japan zu ergattern sucht.
Die Autorin webt in ihrem Buch ein Netz an Erzählungen, das den Verästelungen von Myzelien gleicht. Das verlangt der Leserin viel ab, sind doch die Verzweigungen dieser Kapitalismuskritik bisweilen ausufernd. Dennoch wird man entlang der Darstellung von Waren-und Menschenketten mit einer Fülle von Denkanstössen entschädigt – und mit vielen drängenden Befunden.
Anna Lowenhaupt Tsing: Der Pilz am Ende der Welt. Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus. Verlag Matthes und Seitz, Berlin 2018; 445 Seiten; 34.80 Franken.
Corinne Holtz ist Publizistin und lebt in Zürich.