Der ehrliche Klappentext

«Der jiddische Witz» von Jakob Hessings

Sigmund Freud war der Meinung, der jiddische Witz sei banal und dümmlich. Das Gegenteil ist der Fall. Jakob Hessings Essay «Der jiddische Witz» erinnert uns an den fast verloren gegangenen jiddischen Humor.
Die Seite wurde Ihrer Lesezeichenseite hinzugefügt. Klicken Sie auf das Menüsymbol, um alle Ihre Lesezeichen anzuzeigen. Die Seite wurde von Ihrer Lesezeichenseite entfernt.
Freitag, 16. April 2021

Ein junger, nicht sehr begabter Mann im Schtetl findet keine Stelle. Der reichste Mann des Orts ist bereit, ihm ein kleines Gehalt zu zahlen, wenn er sich ans Tor setzt und meldet, wenn der Messias kommt. «Es ist zwar nicht sehr viel Geld», sagt der Spender, «aber er hat ein Einkommen für sein ganzes Leben.» So lautet ein alter jüdischer Witz. Dass dieser bei aller Kürze alles andere als banal ist, zeigt Jakob Hessing in seinem Buch, das dem Wesen des jüdischen Witzes auf den Grund geht: Wird in dem Beispiel bloss die jüdische Messiaserwartung verspottet, oder nicht auch eine gewisse soziale Verantwortung gegenüber Armen angemahnt?

Anders als der eindimensionale antisemitische Judenwitz, der darauf angelegt ist, die angeblich schlechten Eigenschaften der Juden aufzudecken, sei der jüdische Witz oft vielschichtig, selbstkritisch und in seinen Pointen unerwartet, schreibt Hessing. Zudem habe er seinen Ursprung in der jiddischen Sprache. Diese vor der Shoah in der jüdischen Gemeinschaft meistgesprochene Sprache war ein Zugehörigkeitsmerkmal, das viele westeuropäische Jüdinnen und Juden im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert hinter sich liessen.

Sie wandten sich der bürgerlichen Gesellschaft und deren weltlicher Kultur zu, das Jiddische galt ihnen dagegen als rückständig. Hessing, emeritierter Professor für Germanistik in Jerusalem, zeigt jedoch, dass der jüdische Witz vom Jiddischen nicht zu trennen ist: In der Übersetzung verliere er seinen Charakter, im schlimmsten Fall seine Unschuld.

Der Autor geht dabei von einem sehr weiten Begriff des Witzes aus: Er meint nicht nur lustige Geschichten, sondern auch das, was man im Deutschen «Geist» und im Französischen «esprit» nennt. Diesen Witz spürt er in den Klassikern der jiddischen Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts auf. Die Werke von Autoren wie Mendele Moicher Sforim, Scholem Alejchem und Jizchok Leib Perez beschreiben eine jüdische Welt, die nur noch scheinbar in ihren herkömmlichen Werten und Begriffen verwurzelt ist: Wirtschaft, Religion und Geschlechterverhältnisse sind längst von Kapitalismus und dem revolutionären Gedankengut der Zeit durchgerüttelt worden.

Hessing arbeitet heraus, wie die Autoren sich dem Zusammenprall der traditionellen osteuro­päisch-jüdischen Welt mit der westlich-aufgeklärten Moderne stellen, und liest ihre Werke als geistreiche Verarbeitung der kulturellen und sozialen Umbrüche. Der jiddische Witz, so Hessing, decke die Kluft zwischen alter Welt und neuer Welt auf – und vollziehe damit einen mitunter melancholischen Abschied von der Tradition.

Diese leise Trauer und Mehrschichtigkeit wurden von einem westeuropäischen jüdischen Publikum allerdings oft nicht mehr verstanden. Das mag auch an der Unübersetzbarkeit des Jiddischen liegen, die Franz Kafka einst feststellte. Sigmund Freud etwa konnte dem «jüdischen Witz» – nun ins Deutsche übertragen – nicht mehr viel abgewinnen. Er hielt ihn für banal und dümmlich. Dass ausgerechnet der Vater der Psychoanalyse, der dem Witz immerhin ein ganzes Buch widmete, kein Gefühl mehr für dessen Esprit und widerständiges Wesen hatte, zeigt Hessing in seinem glänzend geschriebenen Epilog auf. Freud, der in seinen Analysen ganz auf Vernunft und Wissenschaftlichkeit pochte, konnte die eigentlichen Pointen von Witzen nur noch verfehlen.

Hessing zeigt in seinem schmalen Buch auf, wie mehrschichtig der jiddische Witz wirklich war und wie sehr ihn die sprachliche und kulturelle Übersetzung verflachte. Auf ein schallendes Johlen war er nie angelegt, eher auf ein wissendes oder auch ungläubiges leises Kichern. Seltsam unpassend ist darum der Untertitel dieses Büchleins, der eine «vergnügliche Geschichte» ankündigt. In Wahrheit handelt es sich um einen nachdenklichen und ungemein inspirierenden Essay.

Jakob Hessing: «Der jiddische Witz. Eine vergnügliche Geschichte». C.H. Beck, München 2020; 172 Seiten; 20 Franken.

Alfred Bodenheimer ist Literaturwissenschaftler, Autor und Professor für Literatur- und Religionsgeschichte in Basel.

  • N° 3/2021

    CHF14.00
    In den Warenkorb