Überschätzt – Unterschätzt

Der aufrechte Gang

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Donnerstag, 14. November 2024

Auf unseren aufrechten Gang sollten wir Menschen uns nicht allzu viel einbilden: Auf zwei Beinen hüpfen können schliesslich auch Kängurus und Amseln. Dennoch scheiden sich seit der Reformation die christlichen Konfessionen in der Frage, ob man vor Gott für seine Sünden geradezustehen hat oder lieber zu Kreuze kriechen soll. Der abtrünnige Wittenberger Mönch Martin Luther hatte, als er am Reichstag zu Worms seine reformatorischen Thesen widerrufen sollte, mit seinem trotzigen Widerwort «Hier stehe ich und kann nicht anders» die Latte ziemlich hoch gehängt. Daran muss sich seither jeder Protestant messen, sei er Zwinglianer, Calvinist, Lutheraner oder Freikirchler.

Mit dem aufrechten Gang gibt es allerdings ein Problem, das weniger der Anatomie geschuldet ist als einer innerlichen Haltung. Wer den Kopf zu hoch trägt, neigt oft zur Hochnäsigkeit. Diese bekommen unsere katholischen Glaubensschwestern und -brüder bisweilen zu spüren. Unter uns Evangelischen herrscht seit 500 Jahren die Vorstellung, dass eine so autoritäre Amtskirche wie der Vatikan nur gebrochene Gläubige hervorbringen kann.

Doch diese Idee ist nicht fair. Die Zivilcourage, die besonders die katholischen Frauen aufbringen, um für Reformen in ihrer Kirche zu kämpfen, ist beeindruckend. Denn es ist viel schwieriger, drohende Repressionen auf sich zu nehmen, um sich für die Frauenweihe zum Priesteramt starkzumachen, als sich, wie wir Protestanten es tun, in einer Kirche gemütlich einzurichten, die gemäss ihrem Selbstverständnis christliche Standfestigkeit und Selbstbestimmung predigt und fördert. Wir Protestanten, die wir den Protest im Namen führen, hätten also Bewegungen wie «Maria 2.0» oder dem Synodalen Weg mehr Solidarität entgegenbringen sollen.

Gott wollte keine verstockten Wesen, die sich ihrer Verfehlungen nicht mehr bewusst sind. Vielleicht hat er uns deshalb Immanuel Kant gesandt, der den Menschen als «krummes Holz» definierte. Weil er beides ist: eine freiheitsbegabte Person, aber immer wieder auch eine miserable Kreatur, permanent im Konflikt mit sich und anderen.

Der aufrechte Gang, der dem Menschen wirklich etwas abverlangt, kommt bei der Zivilcourage zum Tragen. Wenn wir für Schwächere eintreten, gegen Ungerechtigkeiten aufbegehren, uns für Menschenwürde und Menschenrechte einsetzen – auch in Momenten, in denen unser Mut uns Nachteile bescheren kann. Doch das ist eher eine Frage der Confessio, des Bekenntnisses, als eine Frage der Glaubenskonfession.

  • Sophies Angst vor dem Meer

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