Roland Diethelm

Den Gottesdienst zu einem kirchlichen Angebot unter vielen zu degradieren ist falsch

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Freitag, 18. Oktober 2019

Die Protestanten befällt eine seltsame Scham, wenn es um die Liturgie geht. Den Gottesdienst zu einem kirchlichen Angebot unter vielen zu degradieren, das sei falsch, schreibt Roland Diethelm.

Protestanten können nicht feiern. Nicht erst der Karneval bringt sie in Verlegenheit. Sogar der Gottesdienst scheint ihnen Mühe zu bereiten. Dieser Eindruck beschleicht mich bisweilen, wenn ich an einem reformierten Gottesdienst teilnehme.

Oft hat der protestantische Kult den Charme einer Schulstunde. Wenn der, welcher ihn vorbereitet hat, ein interessanter Mensch ist, bin ich gerne dabei. Andernfalls bleibt eine Leere zurück. Es fühlt sich an, als müsse die Liturgie erst soziologisch, diakonisch oder theologisch erklärt und verzweckt werden. Reformierte Theoretiker und Kirchenentwickler beschreiben den Gottesdienst als Bibellehre mit Gesang, bewerben ihn als eine besondere Methode der Verkündigung oder schätzen ihn als authentischen Ausdruck der Theologie des Pfarrers.

Kopf, Herz und Hand sollen angesprochen werden. Im Sitzen, Stehen und Gehen sei die Religion existenziell und umfassend praktikabel, heisst es im Lehrbuch der Praktischen Theologie. Alle fünf und manchmal auch sechs oder gar sieben Sinne sollen berührt werden. Das «Format Gottesdienst» gehört in die «kirchlichen Angebote» – und kann auch einfach entfallen, wenn es nicht mehr nachgefragt wird.

In allem Ernst werden sogar liturgische Gottesdienste angeboten – als ob es auch andere als solche gäbe. Dabei steckt im Begriff Liturgie das antike Wort für «öffentliche Fronarbeit»: Dienstleistung an der Gemeinschaft, zu der jeder und jede verpflichtet werden kann, um die gemeinschaftlichen Aufgaben zu bewältigen. Das gefällt mir: «Pflicht, officium, um einen Dienst zu erfüllen, den die Gemeinschaft vital braucht.» Die echte Begründung für das Gottesdienstfeiern lautet: Er ist göttliche Stiftung – und nicht sozial wertvoll oder diakonisch empfohlen.

Über den Zweck eines Gottes­dienstes entscheiden darum nicht Gemeindemitglieder oder Kunden des Angebots «Kirche», sondern einzig der Stifter: Jesus. Er erfand weder Weihnachten noch das Reformationsfest, wohl aber stiftete er in der jüdischen Pessachfeier eine Gedenkzeremonie, die wir heute Abendmahl oder Eucharistie nennen. Sie macht das Pilgerfest der befreiten Israeliten zum Träger der christlichen Hoffnung. Ob Jesus seine Gebetsanleitung «Unser Vater» für das öffentliche oder nur für das private Gebet seiner Schüler gedacht hat, ist umstritten. Sicher ging er samstags in die Synagoge. Er las dort öfter aus Gesetz und Propheten vor und predigte bisweilen über diese Lesungen, wie es einem erwachsenen und religionsmündigen Juden zukam.

Wir täten gut daran, unseren christlichen Gottesdienst mit diesem jüdischen zu begründen und im Gehorsam gegenüber seinem Stifter zu feiern. Der jüdische Tempeldienst zielte darauf ab, dem Volk Versöhnung mit Gott zu ermöglichen. Die Bibel erzählt, wie Noah nach der grossen Sintflut als der einzige Gerechte unter den Menschen zwar gerettet war, aber gleich wieder in Sünde fiel. Gott gab ihm die Möglichkeit, sein Leben auszulösen aus der tragischen Schuldverstrickung, indem er den Opferdienst des Tempels stiftete. Er braucht das Opfer nicht, sondern er stiftete es den Menschen, damit diese erfahren und daran glauben können, dass er ein Gott der Versöhnung ist. Und schon in den Tagen Jesu kulminierte das liturgische Jahr der Synagoge im grossen Versöhnungstag, dem Jom Kippur. An der Wiege des christlichen Gottes­dienstes stehen der Tempeldienst und das gemeinsame Studium der heiligen Schriften: die Feier des heiligen Mahls, das Psalmensingen und die Schriftauslegung.Pfarrerinnen sind Vorsteher der Liturgie. Sie dienen zuallererst der Stiftung. Was sie in der Feier gemeinsam vollziehen, ist vom Herrn überliefert und macht die Protestanten zu seiner Kirche. Feste soll man feiern, wie sie gestiftet sind.

  • N° 18/2019

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