Überschätzt – Unterschätzt

Das Opfer

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Mittwoch, 25. Januar 2023

Ein Opfer ist im Grunde etwas Grausames. Es ist totalitär, denn es verlangt dem Menschen die vorbehaltlose Hingabe gegenüber einer höheren Macht ab. Sein Sinn besteht darin, eine bedrohliche In­stanz, die über unser Schicksal gebietet, versöhnlich zu stimmen.

Heute klingt das erst mal nach re­ligiösem Aberglauben aus grauer Vor­zeit. Archäologisch freigelegte archaische Opferstätten umweht ein Ruch von Barbarei gegenüber Tieren und Menschen, der uns völlig fremd ist. In der heutigen, eher vernunftgeleiteten Welt fallen die Opfer, die wir zu geben bereit sind, harmlos aus: «Danke, dass Sie mir Ihre Zeit geopfert haben» ist etwa eine dieser Höflichkeitsformeln, die noch entfernt daran erinnern, dass man sich in grauer Vorzeit von etwas Wertvollem, Elementarem trennen musste.

Die Werte haben sich offenbar verschoben. Im Zeitalter der Individualisierung würde jedes Opfer, das mit einer Selbstgefährdung verbunden ist, wohl verweigert. Das ist auch gut so. Denn hinter jeder fanatischen Opferbereitschaft steht eine ideologische Verblendung. Die Nazis haben beispielsweise ihre begeisterte Jugend so zugerichtet, dass sie den «Heldentod für den Führer» als eine Ehre empfand und ihn suchte. Islamistische Selbstmordattentäter werden von ihren Hasspredigern nach dem gleichen Muster instrumentalisiert.

In der Bibel gibt es eine ungeheure Wendung, was das Opfer angeht. Im Alten Testament verlangt Gott von unserem Stammvater Abraham, er solle seinen einzigen Sohn Issak opfern. Als Abraham zu diesem schweren Schritt bereit ist, bläst er die Aktion ab. Was dachte sich Abraham danach? Warum brauchte es diesen Loyalitätsbeweis überhaupt? Und was empfand wohl erst der zitternde Isaak, der zum Spielball reiner Willkür wurde?

Im Neuen Testament aber wird, und das ist das Wunderbare daran, die archaische Opferkonstruktion in ihr Gegenteil verkehrt. Nun ist es Gott selbst, der sein Kostbarstes opfert: Er schenkte uns seinen ­eingeborenen Sohn, der am Kreuz sein Leben gab, auf dass wir ein ewiges Leben bekommen. Seither sind alle Opferungen, ob sakral oder säkulär, völlig obsolet.

Trotzdem ist der Opferkult nicht totzukriegen. Es ist unerträglich zu sehen, wie das Pathos der Heldenverehrung, das lange auf Kriegsdenkmäler gebannt war, wieder mobilisiert wird, etwa jüngst im Krieg Russlands gegen die Ukraine. Hören wir auf Kurt Tucholsky, der schrieb: «Jede Glorifizierung eines Menschen, der im Kriege getötet worden ist, bedeutet drei Tote im nächsten Krieg.»

  • Nº 10/2022

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