«Lach doch mal.» Seit meiner Kindheit verfolgt mich dieser Satz. Kein Wunder hätte ich mich beinahe an meinem Antidepressivum verschluckt, als ich im «Tages-Anzeiger» folgende Nachricht las: In der japanischen Präfektur Yamagata gilt seit neuestem eine Verordnung, welche die Menschen zum regelmässigen Lachen auffordert. Jeder Achte des Monats soll künftig ein Tag des kollektiven Gelächters sein zum Wohle der geistigen und körperlichen Gesundheit. Klingt dystopisch, im Grunde aber ist der Japaner nur der gründlichere Schweizer. Denn auch bei uns gibt es diesen Zwang zur Fröhlichkeit, wenn er auch nicht im Gesetzbuch verankert ist.
Als ich die zweite Klasse besuchte, rief eines Tages meine Klassenlehrerin bei uns zu Hause an und beklagte sich, dass ich immer so ernst sei. Meine Eltern waren beschämt. Die Lehrerin musste denken, dass ich zu Hause regelmässig ausgepeitscht wurde. Warum war ich denn nicht fröhlich? Es fehlte mir doch an nichts. Ihre Strafe war drakonisch: Ich durfte kein einziges Spiel der anstehenden Fussball-Europameisterschaften schauen.
Es ist lange her, ich verzeihe ihnen. Obwohl die Massnahme pädagogisch nicht besonders raffiniert war, trug sie Früchte. Trotz meinem Elend über die verpassten Spiele sass ich nun jeden Tag mit einem sonnigen Grinsen in der Schulbank. Einige Zeit später rief die Lehrerin wieder an: Lukas hat sich gemacht. Er ist nun viel fröhlicher.
Fröhlichkeit ist eine gesellschaftliche Konvention, die wie eine Dienstleistung funktioniert. Es geht darum, dem anderen ein gutes Gefühl zu vermitteln und zu verhindern, dass er sich «Gedanken» macht. Meine Lehrerin hat sich damals vielleicht von mir beobachtet gefühlt. «Sind meine Lehrmethoden wirklich so brillant, wie ich dachte?», wird sie sich möglicherweise gefragt haben.
Mit echter Fröhlichkeit hat diese Wohlfühl-Dienstleistung, wie gesagt, herzlich wenig zu tun. Gute Laune kann man nicht lernen. Aber man kann lernen, sich zu verstellen und seine wahren Gefühle für sich zu behalten, so wie ich es nach dem Anruf der Lehrerin getan hatte. Eine weitere Europameisterschaft würde mir nicht durch die Lappen gehen. Dabei war ich gar kein trauriges Kind. Ich war nur ernst und sah keinen Anlass für Gelächter.
Bis zu einem gewissen Alter oder bis zum Beginn der Fussball-EM lachen Kinder nur dann, wenn ihnen wirklich danach ist. Erwachsene lachen aus allen möglichen Gründen: Scham, Trauer, Unsicherheit. Und sehr häufig lachen wir aus purer Ratlosigkeit. Uns stehen einfach nur sehr wenige mimetische Ausdrücke zur Verfügung, um auf die oft bizarren Aussagen unserer Mitmenschen adäquat zu reagieren.
«Die Nasentropfen nicht länger als eine Woche einnehmen», sagte die Apothekerin zum Kunden vor mir in der Schlange. «Ich weiss», gab er zurück. «Aber ich nehme sie viel länger. Ich nehme sie die ganze Zeit. Ich bin nämlich süchtig und habe nicht vor, damit aufzuhören.» Die Apothekerin schaute ihn entgeistert an. Dann lachte sie.
Vermutlich sind wir bei Kindern einfach wachsamer, wenn sie mal nicht fröhlich sind, während wir uns bei Erwachsenen daran gewöhnt haben, dass sie die ganze Zeit schlechte Laune haben. Auch das ist eine gesellschaftliche Konvention: die Arbeit, das Geld, der Stress. Wem wird da noch warm ums Herz?
Irgendwann wird das Dreiwettergesicht zur Standardgrimasse. In einer ziemlich griesgrämigen Gesellschaft wirkt Heiterkeit fast schon wie ein Affront. Manchmal fahren wir mit dem Tram und da ist dieser eine Fahrgast, der wiehernd lacht. Es fühlt sich an, als lachte er uns aus. Er muss entweder verrückt sein oder mehr wissen als wir anderen. Heiterkeit wirkt wie ein Kontrollverlust. «Du hast aber gute Laune», muss man sich vorwerfen lassen, wenn man mal pfeifend im Büro erscheint.
Für einen professionellen Miesepeter wie mich sind das eigentlich traumhafte Bedingungen. Endlich kann ich so ernsthaft sein, wie ich möchte, ohne dass sich jemand beobachtet fühlt. Doch auch wenn ich mir nicht gerade eine Verordnung wünsche, so vermisse ich dieser Tage doch manchmal, dass jemand zu mir sagt: «Lach doch mal.»
Mehr von Linder gibts in seinem neuen Buch «Charly Broms Dilemma». Ende August im Kein & Aber-Verlag erschienen, handelt es von einem Todesfall, der den Protagonisten in die Vergangenheit zurückführt, zu den Geheimnissen seiner Familie.