Aus der Herzkammer

Das grosse Staunen

Eine siebenundneunzigjährige Patientin hält die Notfallabteilung auf Trab.
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Autor: Ramin Nikzad
Freitag, 16. September 2022

Auf der Notfallabteilung steht eine Patientin mit Brustschmerzen unter der Tür zu meinem Behandlungszimmer: «Herr Doktor, ich nehme an, Sie haben bereits vernommen, dass ich siebenundneunzig Jahre alt bin?»

Ich: «Also, das ist ja …, das hätte ich … also nie und nimmer hätte ich …»

«Niemand glaubt mir das, Herr Doktor, niemand, ich bin Sängerin, Wienerlied und Operette, bis heute trete ich jeden Freitag auf, dabei habe ich ein Lungenemphysem, müssen Sie wissen, ich hätte das nie bemerkt, ich hatte immer ein Volumen wie eine Opernsängerin, no ich hätt’ ja auch an die Oper gehen sollen, müssen Sie wissen, eine Ausnahmestimme hat man mir attestiert. Mit fünfzehn am Konservatorium! Na, sagt mein Hausarzt mir mit achtzig, dass ich ein Lungenemphysem hätte, sag’ ich ihm, ich merk’ aber nichts davon, sagt der doch glatt zu mir: ‹Die meisten meiner Patienten sterben daran und merken es nicht!›»

Während des EKG auf der Liege: «Ich hab’ mich gefragt, ob es der Eierlikör ist, der mir so aufs Herz schlägt, denn ich muss gestehen, seit einigen Monaten hab’ ich so einen Hang zum Eierlikör.»

Während der Blutabnahme zum Studenten: «Ich hätte Venen wie eine Zwanzigjährige, sagt man mir, Sie sollten also fündig werden, junger Mann!»

Student: «Ja, Sie haben sehr gute Venen.»

«Ich nehme an, Sie haben bereits vernommen, dass ich siebenundneunzig Jahre alt bin?»

Student: «Wow! Also das hätte ich nie …»

«Niemand glaubt das! Niemand! Ich habe zwei jüngere Schwestern, eine drei, die andere sieben Jahre jünger als ich. Doch beide im Rollstuhl. Kein Mensch hält mich für die Älteste! Jeder hält mich für die Jüngste. Aber bitte, die haben auch nie wieder einen Mann gehabt, nachdem ihre Gatten verstorben waren, mein Mann ist vor dreissig Jahren verstorben, ein wunderbarer und wunderschöner Mann, ein Opernsänger. Bei einem Vorsingen haben wir uns kennengelernt. Ich hätte eine Ausnahmestimme, wurde mir von allen Seiten attestiert. Mit fünfzehn ans Konservatorium gekommen! Mit fünfzehn!»

Student: «Wow, mit fünfzehn.»

«Ein wunderbarer Mann, mein Ehemann! Aber zehn Jahre älter als ich, und so bin ich seit dreissig Jahren Witwe. Seither hab’ ich mir immer jüngere Männer genommen, fünf, zehn, fünfzehn Jahre jünger, doch ich habe sie dennoch alle überlebt, was soll ich machen.»

Während des Blutdruckmessens durch die Studentin: «Draussen sitzt mein Begleiter. Er wäre ja recht interessiert an mir, aber der ist mir zu alt, auch schon Mitte Achtzig. Die sterben einem in Kürze weg, die Achtzigjährigen.»

Studentin: «Versteh’ ich, Sie sind ja noch jung und fit.»

«Ach! Haben Sie denn noch gar nicht vernommen, dass ich bereits siebenundneunzig Jahre alt bin?»

Studentin: «Was? Unglaublich! Das hätt’ ich nie …»

«Niemand glaubt das! Niemand! Na, aber dennoch ist mir der mit Mitte Achtzig zu alt, mir sterben die alten Männer alle weg wie die Fliegen, und ich muss mir den nächsten suchen. Mir ist das mittlerweile zu anstrengend, ich bin ja auch nicht mehr die Jüngste.»

Bei der Verabschiedung zu mir: «Lieber Herr Doktor! Ich danke Ihnen für Ihre liebe Betreuung und ich möchte Ihnen sagen: Bewahren Sie sich Ihr sonniges Gemüt! Und vergessen Sie nie: Es ist alles Schicksal im Leben! Alles Schicksal! Mein Mann und ich hätten in den Dreissigern eine grosse Opernkarriere gehabt, aber wir haben halt diesen Hitler und diese Nazis gehasst. Na, das war’s dann mit der Karriere. Es ist ein Wunder, dass wir das überlebt haben, mein Mann und ich, ein Wunder, aber das ist eine längere Geschichte, Herr Doktor.»

  • N° 8/2022

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