Wer hat als Kind nicht Erich Kästner gelesen: Emil und die Detektive etwa oder Das doppelte Lottchen. Kästner, der erfolgreiche Kinderbuchautor, der auch Lyriker, Essayist, Roman und Drehbuchautor war, flüchtete nach Hitlers Machtergreifung nicht ins Ausland. Zwar verabscheute er die Nazis und musste mitansehen, wie seine Bücher verbrannt wurden. Doch er entschied sich für die innere Emigration. Unter Pseudonym konnte er noch einige Jahre als Drehbuchschreiber weiterarbeiten.
Er blieb in Berlin, weil er das Nazitum für einen rasch vorübergehenden Spuk hielt und seine Eltern nicht allein zurücklassen wollte. Kästner hatte eine starke Bindung an seine Mutter, die ihm auch durch den Krieg hindurch getreu seine Wäsche besorgte. Und er blieb, weil einer «dableiben» musste, «umso mehr, als alle anderen schon emigriert waren». Im Januar 1941 fasste er den Entschluss, «Einzelheiten des Kriegsalltags aufzuzeichnen, bevor sie, je nachdem wie dieser Krieg ausgehen wird, mit Absicht und auch absichtslos allgemein vergessen, verändert, gedeutet oder umgedeutet sein werden».
Kästner schrieb sein Kriegstagebuch in ein in blaues Leinen gefasstes Buch, notdürftig versteckt in seiner Bibliothek. Hätte es die Gestapo entdeckt, wäre er als «Wehrzersetzer» angeklagt worden. Obschon sich seine Chronik nicht als flammende Widerstandsschrift liest. Kästner notierte, was er im deutschen Rundfunk gehört oder in der Nazipresse gelesen hatte – oft als neutraler Zeuge. Er kommentierte den Kriegsverlauf spärlich, aber sarkastisch.
Die Durchhalteparole «Nach dem Kriege wird Deutschland ein Paradies sein» etwa mit dem Nachsatz, «weil dann die Leute auch nichts anzuziehen haben werden». Er sammelte Bonmots wie «Der Krieg wird wegen seines grossen Erfolges verlängert». Oder hielt fest, dass Reichsjugendführer Baldur von Schirach eine Rede vor Fabrikarbeitern in Wien habe abbrechen müssen, weil diese in pausenlose, ironische Siegheilrufe ausgebrochen waren. Aber stimmte die Nachricht auch? «Dass Gerüchte am laufenden Band fabriziert werden, ist kein Wunder. Denn wenn in einer solchen gespannten Situation niemand etwas weiss, bleibt der Bevölkerung nichts übrig, als alles zu glauben.»
Kästner selber war gut informiert, sowohl über «Judenerschiessungen im Osten» als auch über Nazi-interne Querelen. Er verkehrte in angesagten Berliner Bars und Restaurants, scheute nicht den Kontakt mit Handlangern des Regimes, mit ehemaligen Kollegen aus der Filmbranche etwa. Und er spitzte die Ohren, wenn ein Kellner ins Plaudern kam, dem «der Coiffeur eines japanischen Botschaftsrats» dies und das anvertraute hatte.
Der Gleichmut, mit dem Kästner seine Beobachtungen festhielt, irritiert. Auch sparte er Persönliches aus. Sein Tagebuch ist kein Journal intime. Kästner sammelte insgeheim Stoff für ein Projekt, das er nie realisierte: einen grossen Roman über das Dritte Reich. Das «Blaue Buch» enthält neben dem Kriegstagebuch auch Skizzen zu diesem Roman – beides liegt nun erstmals umfassend ediert, kommentiert und mit zahlreichen Anmerkungen versehen vor.
Wollte Kästner einen Bildungsroman schreiben? Die Entwicklung eines Mannes im Faschismus zeigen, «der die niederträchtige Zeit zur Charakterschulung nutzt – und zum Stoiker und Humorist wird», wie Kästner in den Romanskizzen schrieb? Und warum scheiterte er daran? «Ich merkte, dass ich es nicht konnte. Und ich merkte, dass ich’s nicht wollte», sagte er später. Vielleicht, weil er irgendwann doch spürte, dass Stoizismus und Gelassenheit angesichts des Holocausts nichts weiter waren als Zynismus. Vielleicht auch, weil er überhaupt den Glauben an die Verbesserungsfähigkeit des Menschen durch «Charakterschulung» verloren hatte: «Unpolitische Idealisten, wie ich einer war, erleben wohl immer das Gleiche: Eines Tages verachten sie die Menge, aber doch eben nur, weil sie die Menge vorher überschätzten.»
Kästners Tagebuch ist ein ungewöhnliches Zeitdokument, aber keines, das man unbedingt gelesen haben muss. Dazu bleibt es zu distanziert und neutral.
Erich Kästner: Das Blaue Buch. Geheimes Kriegstagebuch 1941—1945. Atrium, Zürich 2018; 405 Seiten; 41.50 Franken.
Samuel Geiser ist Journalist und lebt in Bern.