Die britische Rapperin, Dichterin und Theaterautorin Kate Tempest ist so etwas wie die lyrische Stimme ihrer Generation. Mit ihren leidenschaftlichen Performances wurde die heute 32jährige schon früh zum Star der Feuilletons, vielleicht auch, weil sie so wunderbar auf dem Boden geblieben ist. Tempest ist im rauhen Süden Londons aufgewachsen, brach die Schule ab, trägt meist Schlabberklamotten und raucht Kette. Mit Hund Murfy lebt sie immer noch in Lewisham, ihrem Herkunftsquartier. Die Helden ihrer Gedichte und Alben sind wie sie selbst Bewohner der Vorstadt. So auch im preisgekrönten Brand New Ancients, ihrem ersten Langgedicht, das nun in einer englisch-deutschen Doppelausgabe vorliegt.
Mit der ihr eigenen lyrischen Wucht entreisst Tempest ihre Protagonisten der backsteinernen Tristesse von Suburbia. Zeile für Zeile werden aus den Bewohnerinnen von Camberwell, Brixton oder Deptford moderne Helden, denn «wir sind immer noch mythisch / wir schwanken immer noch pausenlos zwischen Heldentum und Elend / wir sind immer noch göttlich / das macht uns so schrecklich». Tempest nennt ihre Protagonisten Thommy, Kate, Clive oder Brian: Ihren neuen Göttern ist das Dümpeln im Mittelmass buchstäblich eingeschrieben. Nur die Schulabbrecherin Gloria trägt ein Versprechen im Namen.
Mit einem präzisen Blick beobachtet Tempest etwa Mary, die Verkäuferin, die sich abends vor der Glotze in den Schlaf säuft, oder Kevin, den gutmütig-dummen Ehemann, der die Untreue seiner Gattin mit Demut hinnimmt. Jede ihrer Figuren ist tragisch und traurig. Aber vor allem macht Tempest das Menschliche dieser unscheinbaren Menschen sichtbar.
Wenn sie mitten in das Leben ihrer Protagonisten zoomt, ruft Tempest wie eine Schicksalsgöttin diese einsamen Schicksale und fragilen Leben auf. Sie verwebt sie zu einem Teppich, in dem jeder Lebensfaden mit dem anderen verstrickt ist. Zwei unglückliche Paare, zwei Halbbrüder, die nichts voneinander wissen: einer davon begabt, der andere missraten – das Schicksal nimmt seinen Lauf. Jeder folgt seiner Bestimmung. Und jeder verfehlt damit grandios den anderen. Man könnte es sinnlos nennen und in Depression verstummen. Tempest aber erkennt darin Tragik am Werk und beschwört diese in einer rhythmischen Sprache, die ihren ganz eigenen Sog entwickelt: «Hier leben drei Seelen gemeinsam, doch alle sind einsam. / Brian schreit Mary an, Mary schreit Clive an, / und der kleine Clive saugt es auf wie ein Schwamm.»
Atemlos treiben die guten und die schlechten Schicksalsläufe aufeinander zu. Es gibt kein Entrinnen aus dem rasanten Strom der Verse, etwas bang eilen die Zeilen auf ihr Ende zu. Und doch: In einem Showdown aus Blut, Tränen, Spucke, Scherben und bösem Gelächter ringt das Gute das Böse auf dem schmutzigen Boden einer Kneipe nieder, und Gloria, das lange malträtierte Barmädchen, wird ihrem Namen endlich gerecht. Ein Happy End mit einer zerbrochenen Bierflasche in der Hand.
Übersetzerin Johanna Wange ist es gelungen, Tempests Sprachsinn und die losen Reime stimmig ins Deutsche zu übertragen, ohne dass dies angestrengt wirkt. Die englisch-deutsche Doppelausgabe – links englisch, rechts deutsch – ermöglicht die vergleichende Querlektüre. Da heisst es über den lange erfolglosen Komikkünstler Thommy: «Am Tag verpackt er Hundefutter in einer Fabrik, / aber bei Nacht / kämpft er als Rebell gegen eine teuflische Macht.» Im englischen Original lautet die Passage: «by day / he works in a factory packing dog food, / but by night / he’s a rebel with a devil to fight.»
Kate Tempests Verse sind zum Laut-Lesen geschrieben. Man sollte es wagen, zumindest einige Zeilen lang. Und unbedingt empfiehlt es sich zu erleben, wie Tempest Brand New Ancients selber performt. Wenn nicht live, dann wenigstens auf Youtube. Auf der Bühne ist Kate Tempest eine Wucht.
Kate Tempest: Brand New Ancients. Brandneue Klassiker. Englisch und deutsch. Übersetzt von Johanna Wange. Suhrkamp, Berlin 2017; 105 Seiten; 20.90 Franken.
Susanne Leuenberger ist Redaktorin bei bref.