Pretoria, 10. Mai 1994: Nelson Mandela ist gerade zum ersten schwarzen Präsidenten Südafrikas gewählt worden. In seiner Antrittsrede findet der Politiker, der fast dreissig Jahre lang vom Apartheidregime gefangen gehalten wurde, zum Erstaunen vieler versöhnliche Worte. Die Zeit, die Wunden zu heilen, sei gekommen, sagt er. Die Zeit für eine Gesellschaft, in der jeder – egal ob schwarz oder weiss – ein Leben in Würde führen werde. Die Zeit für eine «Regenbogennation», im Frieden mit sich selbst und mit der Welt.
Zwanzig Jahre später schreibt Malaika Wa Azania einen Brief an den ANC. Es ist eine Abrechnung mit der Partei Mandelas, die sich seit diesem denkwürdigen Tag 1994 an der Macht gehalten hat. Denn die schönen Worte des Präsidenten sind nur zum Teil Realität geworden: Noch immer kämpft die schwarze Bevölkerung gegen Armut und Diskriminierung. Die Frage, was mit dem Land geschehen soll, das sich die weissen Südafrikaner widerrechtlich angeeignet haben, ist weiterhin ungeklärt. Und der ANC, einst Hoffnungsträger der schwarzen Bevölkerung, stolpert von einem Korruptionsskandal zum nächsten.
Malaika Wa Azanias Brief wurde 2014 als Buch gedruckt und dieses Jahr unter dem Titel Born Free auf Deutsch herausgebracht. Die Autorin erzählt darin zunächst ihre persönliche Geschichte. Sie wurde 1991 und damit nach dem Ende der Apartheid geboren und wuchs in Soweto in ärmlichen Verhältnissen auf. In der Schule zeigte sie Engagement und bekam in fast allen Fächern gute Noten. 2002 konnte sie auf eine sogenannte Model-C-Schule wechseln, die früher den Weissen vorbehalten war, nun aber Kindern jeder Herkunft offenstand. Malaika fühlte sich dort fremd. Als ihre Lehrerin eines Tages weinend in die Klasse kam und erzählte, dass ihr Hund von einem Auto überfahren worden sei, trösteten die anderen Kinder die Frau. Nur Malaika fing an zu lachen. «In Soweto starben Hunde andauernd, aber ich hatte noch nie jemanden um einen weinen sehen», heisst es im Buch. «Das war doch einfach nur dumm.»
Mit solchen Szenen macht die Autorin deutlich, wie sehr sich die Lebenswelten von Schwarzen und Weissen in Südafrika immer noch unterscheiden. Malaika Wa Azania nennt das «institutionalisierten Rassismus». Der zeige sich, «wenn ein schwarzes Kind in aller Herrgottsfrühe aufstehen muss, um mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu einer ‹guten› Model-C-Schule zu kommen, während ein weisses Kind nur ein paar Meter gehen muss oder von einem Chauffeur in einem Auto deutschen Fabrikats dorthin gebracht wird.» Er werde auch deutlich, wenn schwarze Kinder zwar gut Englisch beherrschen müssten, von weissen Kindern aber kaum Kenntnisse in einheimischen Sprachen verlangt würden. Und er zeige sich in den Lehrplänen, wo keine afrikanische Literatur zu finden sei, dafür aber Macbeth – eine Geschichte, die mit der Welt eines schwarzen Kindes «rein gar nichts zu tun» habe.
Das alles beschreibt die junge Autorin, die in ihrer Heimat auch als Bloggerin und Aktivistin bekannt ist, in einfacher und fast schon naiver Sprache. An einigen Stellen hört man ihr auch den störrischen Teenager an, der versucht, in verschiedenen Organisationen eine politische Heimat zu finden, und dabei immer wieder aneckt. Doch dann fressen sich ihre Worte wieder direkt ins Herz: «Manchmal bleibt einem schwarzen Kind nur ein einziges Mittel, um gegen ein System zu kämpfen, das es unmenschlich behandelt: Wut. Eine so starke Wut, dass dieses Kind keine andere Wahl hat, als das Wagnis auf sich zu nehmen, am Leben zu bleiben.»
Es sind Sätze wie diese, die Born free zu mehr als einer Biografie machen – zum Portrait einer freien, aber ernüchterten Generation von schwarzen Südafrikanern.
Malaika Wa Azania: Born Free. Mein Leben im Südafrika nach der Apartheid. Rotpunktverlag; Zürich 2016; 192 Seiten; 23 Franken.
Vanessa Buff ist stellvertretende Redaktionsleiterin bei bref.