Meine Brust verengt sich. Ein Gefühl der Beklommenheit steigt in mir hoch. Der Sommer ist vorbei. Ich bin nach Wochen des Reisens endlich wieder in meiner Heimatstadt Hamburg, in Deutschland gelandet. Am Flughafen steigen wir in die Bahn. Vorsichtig versuche ich die Gesichter der Menschen um uns herum zu deuten.
Sind sie freundlich oder abweisend? Sollen wir diesen Wagon meiden oder können wir in Ruhe sitzen bleiben? Was denken sie über mich? Über meinen Mann? Unser Kind?
Wenige Minuten zuvor standen wir an der Passkontrolle. «Alle ohne deutschen Pass – da anstellen! Da!» Der Polizeibeamte, der uns anwies, schrie dabei fast. Immer wieder lief er durch die Reihen: «Türken da hin! Türken da hin!», damit auch die letzten Ankömmlinge die richtige Schlange und Stellung in dieser Gesellschaft fanden. Er schaute uns eindringlich an, doch wir blieben stehen – wir, mit unseren deutschen Pässen.
Die Menschen blickten uns anders an, als wir es auf unseren Reisen in den letzten Wochen erlebt hatten. Manche schauten abwertend, andere verzogen das Gesicht oder rempelten mich an. Mein Sohn beobachtete unvoreingenommen die Menschen um sich herum, suchte ihren Blick, fand ihn bei manchen, wurde von vielen ignoriert. Ich fühlte mich unwohl. Hier. In meiner Heimatstadt. In meinem Heimatland. Dann drehte ich mich zu meinem Mann um und fragte mich, ob auch er sich so fühlt. Er ist mütterlicherseits herkunftsdeutsch, väterlicherseits türkisch. Ihm sieht man weder die Herkunft noch die Religion an. Wenn wir gemeinsam unterwegs sind, erlebt er eine andere Gesellschaft, als wenn er alleine ist. Schliesslich sprach ich es aus, leise: «Ich fühle mich unwohl.» Er sah mich an, beugte sich vor und sagte: «Ich auch.» Und dann begann er all jene Momente, Blicke und Worte aufzuzählen, die auch mich seit unserer Ankunft beklommen gemacht hatten.
Ich war erleichtert. Erleichtert, bestätigt zu bekommen, dass nicht ich alleine so fühlte. Dabei war an diesem Tag nichts Herausragendes geschehen. Niemand hatte mich offen beschimpft oder angeschrien, wie an manch anderen Tagen. Und wäre ich nicht gerade von einer wochenlangen Reise zurückgekehrt, wäre dieser Tag absolut gewöhnlich gewesen. Doch im Vergleich zur Unbeschwertheit unserer Reise fiel mir das Unbehagen auf. In den Tagen nach unserer Ankunft gewöhnte ich mich wieder an diese Schwere im Magen – bis ich sie schliesslich ganz vergass. Ihr Dasein wurde zu meinem, zu unserem Grundgefühl. Ein Teil von uns.
Einige Wochen später sass ich vor dem Fernseher – zusammen mit den Redaktoren einer grossen deutschen Wochenzeitung. «Wir werden sie jagen», rief Gauland, Spitzenkandidat der AfD, als die Ergebnisse verkündet worden waren. Die Bundesregierung solle sich warm anziehen: «Wir werden uns unser Volk zurückholen.» Ein Schauer lief mir über den Rücken. Auf alles war ich vorbereitet gewesen, aber nicht auf die Kälte dieser Worte. Als ich durch die Strassen ging, fragte ich mich, welche dieser Menschen, die ich passierte, jene sind, die für diese Partei gestimmt hatten, deren Programm auf dem Hass gegenüber einer Minderheit in ihrem Land aufbaut. Ich fragte mich, welche dieser Menschen, denen ich begegnete, gegen die Zugehörigkeit von Menschen wie mir gestimmt hatten.
Ein Tag verging. Zwei Tage vergingen. Ich hörte auf, in den Gesichtern der Passanten nach Antworten zu suchen. Ich hatte mich an den Schauer, die Kälte gewöhnt. Bis ich zufällig auf die Worte des Philosophen Rabbi Abraham Joshua Heschel stiess: «I would say about individuals, an individual dies when he ceases to be surprised. I am surprised every morning that I see the sunshine again. When I see an act of evil, I am not accommodated. I don’t accommodate myself to the violence that goes on everywhere; I’m still surprised. That’s why I’m against it, why I can hope against it. We must learn how to be surprised, not to adjust ourselves. I am the most maladjusted person in society.» Während ich diese Wort las, erinnerte ich mich an die Worte des indischen Philosophen Jiddu Krishnamurti: «Es ist kein Zeichen von Gesundheit, an eine von Grund auf kranke Gesellschaft gut angepasst zu sein.»
Ich habe keine Ahnung, wie das gehen soll. Überrascht zu bleiben. Sich nicht an Unrecht zu gewöhnen. Und trotzdem zu leben. Mit Freude zu leben. Aber ich denke, mein Auftrag ist klar. Unser Auftrag ist klar. Bleiben Sie mit mir überrascht. Und bleiben Sie unangepasst.