Johann Sebastian Bach wird wie kaum ein anderer Komponist ideologisch vereinnahmt: Er gilt vielen als Intellektueller à la Newton, als Held der Arbeiterklasse oder gar als fünfter Evangelist. John Eliot Gardiner, Bachinterpret von Weltruf, räumt mit den Klischees auf und zeigt den Eisenacher als Kind seiner Zeit: Bach, zweihundert Jahre jünger als Luther, wächst in der sächsischen Provinz auf, unberührt vom aufklärerischen Geist der Elite Deutschlands. Die Region ist arm, ein Kartoffelacker überlebenswichtig, in Eisenach gehören Hausschweine und Misthaufen zum Stadtbild. Dass es im Thüringer Wald spukt, davon ist man über den Dreissigjährigen Krieg hinaus überzeugt. Heftige Gewitter sind typisch für die Region, dafür macht man den Teufel verantwortlich. Der Aberglaube hält sich aber auch in den Städten. So etwa in der Universitätsstadt Leipzig, wo 1730 zwei Frauen wegen Kurpfuscherei und Zauberei angeklagt und zum Tode verurteilt werden. Bach, damals Kantor der Thomaskirche, könnte diesen Hexenprozess persönlich mitverfolgt haben.
John Eliot Gardiner revidiert das Bild des aufklärerisch geprägten Bach, der idyllische Schuljahre in Eisenach verbrachte und in der dortigen Lateinschule mit universeller Bildung versorgt worden sein soll. Das Gegenteil war der Fall, wie neue Quellen belegen. Die Sitten waren roh, die Jungs der Lateinschule «Halbstarke», die gewaltbereit «öfter mal ein Fenster einschlugen oder mit einem Messer hantierten, um sich Respekt zu verschaffen». Ähnlich drastisch waren die Erziehungsmethoden der Schulleitung. Prügelstrafen waren an der Tagesordnung, wer seine Eltern beleidigte, dem drohte eine Geldstrafe oder gar Gefängnis.
Von Bach selbst sind lange Fehlzeiten überliefert: 96 Tage im ersten Schuljahr, im dritten gar 103. Traditionelle Bach-Biografien führen diese auf die Krankheit seiner Mutter und auf die Lehrzeit beim Vater, dem Musiker Johann Ambrosius Bach, zurück. Bach war nämlich dessen inoffizieller Lehrling, kopierte Notenhandschriften, zog Saiten auf und pflegte die Instrumentensammlung. Ob Bach aus anderen, «besorgniserregenderen» Gründen fehlte – darüber kann auch der Autor nur spekulieren.
Gardiner verortet Bachs Leben in einer Zeitenwende: Das 18. Jahrhundert war ebenso ein Zeitalter der Vernunft wie ein Zeitalter der Religion. Wissenschaft ging Hand in Hand mit der Alchemie. Der Bach-Kenner zieht dabei ganz klar auch Parallelen zwischen Bach und dessen Vorbild Luther. Wie Luther sang Bach im Chor der Georgenschule in Eisenach, ging als Kurrende-Sänger von Tür zu Tür und erbte Luthers «spätmittelalterliche Sicht» auf das Dasein: Das Leben sei ein täglicher Kampf zwischen Gott und dem Satan, entsprechend sei dem Tod freudig ins Auge zu blicken. Die Kirchenlieder und Theologie Luthers waren der «wichtigste Kanal, über den Bach Wissen über die Welt um ihn herum aufsog». Bach besuchte nie eine Universität und bestand auf der Legende, ein kompositorischer Autodidakt zu sein. Sein Handwerk habe er sich einzig durch «Fleiss» erarbeitet.
Tatsächlich unterwarf sich Bach einem fortlaufenden Selbstfindungs- und Verbesserungsprozess und strebte nach «Vollkommenheit». Stile antico, Oper, Tanz, hochvirtuose Chorpartien, galante Stilelemente, polyphone Überhöhung – alles, was Musik damals sein konnte, führte Bach zusammen.
Dennoch: Grosse Musik muss nicht unbedingt von grossen Persönlichkeiten stammen, darauf besteht Gardiner. Seine leichtfüssig erzählte Biografie entmystifiziert Bach, ohne seine Faszination zu schmälern. Sie handelt von seinem künstlerischen Kampf und der Subversität seiner Musik. Und sie ist eine Kulturgeschichte, die Bach als Komponisten zwischen dem Zeitalter der Religion und dem Zeitalter der Vernunft zeigt.
John Eliot Gardiner: Bach. Musik für die Himmelsburg. Hanser-Verlag; Berlin 2016; 713 Seiten; 38.90 Franken.
Corinne Holtz ist Musikpublizistin.