Der ehrliche Klappentext

«Anders nicht falsch» von Maria Zimmermann

Die Zürcher Künstlerin Maria Zimmermann erhielt als Erwachsene die Diagnose Autismus. Weil es kaum gute Literatur über autistische Wahrnehmung gab, hat sie selbst ein Buch geschrieben. «Anders nicht falsch» ist ein Plädoyer für die menschliche Vielfalt.
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Freitag, 15. Dezember 2023

Schon bei der ersten Durchsicht der bunten Seiten wird klar, das «Anders» im Buchtitel ist Programm. Zimmermann, die Vermittlung von Kunst und Design an der Zürcher Hochschule der Künste studiert hat, unterlegt ihre Ausführungen mit eingängigen Illustrationen im Stile einer Graphic Novel. Dabei ist ihr das Kunststück gelungen, prägnante und zugleich unaufdringliche Bilder zu schaffen.

Überhaupt sind die Illustrationen mehr als blosse Dekoration. Sie verleihen den kurzen Texten zusätzliche Kraft. Das wird beispielsweise dann deutlich, wenn die Autorin den autistischen Reizfilter als durchlässiges Spaghettisieb, die Aufnahmefähigkeit aber lediglich als Kaffeetasse darstellt. Dass die Tasse eher früher als später überläuft, wird so auch für nicht autistische Menschen augenscheinlich.

Der kurzweilige Text beschränkt sich auf grundlegende Informationen. Zimmermann bringt die Eigenheiten autistischer Wahrnehmung auf den Punkt, ohne dabei den Anspruch auf Absolutheit zu erheben. Ausgangspunkt ist stets ihr eigenes Erleben. Keine Autistin sei wie die andere, weshalb Autismus auch als Spektrum bezeichnet wird. Den Autismus gibt es nicht.

Und doch dürften gerade die treffsichere Sprache und das Teilen der eigenen Biografie helfen, dass sich viele Autistinnen in dem Buch wiederfinden. Für Menschen, die selbst nicht im Spektrum sind, bieten die Ausführungen kompaktes Wissen und – noch viel wichtiger – ein nachvollziehbares Bild davon, wie es ist, autistisch zu sein.

Auf aktuellem Forschungsstand beschreibt Zimmermann Autismus als «ein anderes Wahrnehmen und Begreifen und Kommunizieren mit der Welt». Dabei sei das Spektrum nicht linear zu denken von nicht bis sehr autistisch. Zimmerman illustriert es als drei-, vier-, wenn nicht sogar vieldimensional. In elf Kapiteln, die jeweils einem Aspekt gewidmet sind, geht sie dieser Vieldimensionalität nach.

Gleich zu Beginn beschreibt sie «Enthusiasmen» als die autistische Eigenheit, sich in Spezialgebieten zu vertiefen. Diese Interessen bereiten nicht nur schier grenzenlose Freude, sondern bieten auch einen notwendigen Rückzugsort, um die übervolle Kaffeetasse zu entleeren. In einer chaotischen Welt, die nicht für autistische Wahrnehmung konzipiert ist, ist das existenziell.

Darum betont Zimmermann im Abschnitt über kognitive Fähigkeiten denn auch, wie verlässliche Abmachungen, Strukturen und Rituale helfen, den Alltag zu bewältigen. Um Veränderungen zu verarbeiten, brauche sie aufgrund des autistischen Reizfilters viel Raum und Zeit.

Im Kapitel zu sensorischer Sensibilität widerspricht Zimmermann zu Recht dem gängigen Klischee, Autistinnen «empfänden nichts oder wenig». Das Gegenteil ist der Fall. Eindringlich beschreibt die Autorin im Kapitel «Gefühle», wie sich dieses Zuviel manchmal in Meltdowns oder Shutdowns äussert – in Ausbrüchen oder vollständigem Erstarren. «Wenn der Meltdown da ist, gibt es kein Entfliehen mehr. Kein Rationalisieren. Kein Erklären.»

Zimmermann schreibt über Gefühle, die raus müssen, und über die Scham, die bleibt. Über die Fallstricke der Zwischenmenschlichkeit. Über Schichten von sozialverträglichen Masken, die sie sich über Jahrzehnte antrainiert hat und die sie jetzt nicht mehr ohne weiteres ablegen kann. Sie schreibt aber auch darüber, sich zu erlauben, sie selbst zu sein. «Ich darf auf meine eigene Art Teil der Gesellschaft sein.»

Am Ende schreibt Zimmermann keine Geschichte des Defizits. Vielmehr legt sie in Wort und Bild ein Plädoyer für die Vieldimensionalität menschlicher Andersheit vor. «Anders nicht falsch» ist das Buch, von dem man sich wünscht, dass es auch nicht autistische Menschen lesen. Geschichten wie jene von Maria Zimmermann machen einen Unterschied, und es ist wichtig, dass sie gehört werden.

Maria Zimmermann: «Anders nicht falsch». Kommode-Verlag, Zürich 2023; 220 Seiten; 32.90 Franken.

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