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Die in der Mitte brauchen die am Rand, um sich sicher zu fühlen, sich selbst zu bestätigen.» Diese zynische Tatsache schickt Klaus Petrus im Vorwort voraus. Und man kriegt den Satz nicht mehr aus dem Kopf, wenn man die Geschichten vom «alten Trinker», der «armen Lotti» oder der «Unberührbaren» liest. So komprimiert wie die Titel, so direkt und nahe sind die Protokolle. Der Fotojournalist und Reporter begnügt sich nicht mit bequemen Stereotypen der Abgehängten und Verlorenen. In seinem schönen kleinen Buch porträtiert er aus nächster Nähe fünfzehn Menschen, die am Rand der Gesellschaft leben.
Die Geschichten brauchen keine Pointen, Wendungen und Helden. Sie kommen direkt aus dem Leben. Etwa wenn Hans-Peter Koller davon berichtet, wie er «schleichend, sanft und wohlig» nach seiner Pensionierung zum Alkoholiker wird. Trotz funktionierender Ehe und intaktem Freundeskreis. «Nun bist du ein Säufer», stellt er fest, als er wiederholt billigen Fusel in die edle Rioja-Flasche abfüllt, um den Schein zu wahren. Und sich dann vor dem Enkel schämt, weil dieser den Alkohol riecht. Oder da ist der Ingenieur aus Bern, der zweibis dreimal die Woche Prostituierte aufsucht, obwohl er in einer glücklichen und funktionierenden Familie lebt. In fünfzehn Jahren hat er so 162 000 Franken ausgegeben. Nicht einmal seine besten Freunde ahnen etwas.
Dorothea, die voll im Leben steht, zwei Teenager hat und beruflich Manager coacht, wird einmal im Monat zu Samantha. Sie lässt sich von fremden Männern mit Sperma bespritzen. «Bukkake» nennt sich die Praktik. «Mir geht es um die Sache mit dem Dienen. Um die Macht», sagt sie. Lotti, die in einer Sozialwohnung lebt, jeden Tag in den Abfallkübeln wühlt und bettelt, sagt: «Arm sein ist anstrengend.» Sie bleibt unsichtbar, umschifft mit Ausreden soziale Verpflichtungen, bei denen aufflöge, dass sie kein Geld hat – «Käffele» mit Freunden, Ausflüge oder den Seniorentreff. Ihre Geschichte ist eine von vielen, die zeigen: Es braucht nicht viel, es kann jede und jeden treffen.
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