Es ist schon der vierte Gottesdienst an diesem Karfreitagabend, gehalten diesmal in Englisch, der Sprache, die am Persischen Golf die meisten verstehen. Vorausgegangen sind ihm Feiern in Malayalam, Englisch und Französisch, eine auf Arabisch wird folgen. Schon eine halbe Stunde vor Beginn haben sich die Gläubigen auf dem grossen Platz vor der Kirche eingefunden: eine vielköpfige, buntgemischte Menge, Frauen in farbenprächtigen Saris, Afrikanerinnen mit kunstvoll drapiertem Kopftuch, Männer im dunklen Anzug, dazwischen Kinder jeglichen Alters, auch sie herausgeputzt, als ginge es zu einer Party. Wer keinen Sitzplatz mehr ergattern konnte, steht, in stummer Andacht versunken, die Hände zum Gebet gefaltet.
Der Freitag ist in Abu Dhabi, wie in allen muslimischen Ländern, ein arbeitsfreier Tag und damit für Christen oft die einzige Gelegenheit, tagsüber einen Gottesdienst zu besuchen. Entsprechend zahlreich sind sie erschienen, die sogenannten Expats oder Arbeitsmigranten, die in den Vereinigten Arabischen Emiraten das tägliche Leben am Laufen halten und in Abu Dhabi über achtzig Prozent der Bevölkerung ausmachen.
Auch wenn den christlichen Religionsgemeinschaften hier wie überall in den Vereinigten Arabischen Emiraten der Bau von Glockentürmen verboten ist, lässt sich an diesem Karfreitagabend schon von weitem erkennen, wo sich die Kirche befindet.
Religiöse Bedürfnisse zu stillen ist für die Christen unter den Arbeitsmigranten alles andere als einfach.
Gottesdienstbesucher strömen aus allen Himmelsrichtungen dem Areal im Stadtteil Al Mushrif entgegen, das neben der St. Joseph’s Cathedral und der ebenfalls katholischen St. Therese Church auch die anglikanische St. Andrew’s Church und die koptisch-orthodoxe St. George Cathedral beherbergt.
Der Parkplatz ist verstellt. Marktstände bieten Verpflegung an. Kleinbusse fahren vor und lassen die Arbeiter aussteigen, die sie aus ihren zum Teil weit entlegenen Unterkünften herbeigeschafft haben.
Leben in prekären Verhältnissen
Aus über zweihundert verschiedenen Ländern stammen die Arbeiterinnen und Arbeiter, die am Persischen Golf auf Baustellen schuften, in Haushalten wirken und für das Wohl anspruchsvoller Touristen sorgen. Ihre Situation ist vielfach prekär. Migranten brauchen, um arbeiten zu können, ein Visum, das sie alle zwei Jahre verlängern müssen. Bei Stellenverlust oder geringsten Vergehen können sie ausgewiesen werden. Ein Grossteil von ihnen lebt, von der Familie getrennt, in «Labour Camps» oder Privathaushalten, führt ein streng reglementiertes Leben und verfügt bei der allgemein geltenden Sechstagewoche nur über wenig Freizeit. Ihre religiösen Bedürfnisse zu stillen ist für die Christen unter ihnen deshalb alles andere als einfach. Gleichwohl scheuen sie keine Mühe, um an ihrem freien Tag oder am Sonntag vor oder nach der Arbeit einen Gottesdienst zu besuchen, ihre Kinder in den Religionsunterricht zu schicken und sich darüber hinaus auch noch als Freiwillige in der Gemeindearbeit zu engagieren.

Kein Aufwand wird gescheut, um sich für die Ostergottesdienste herauszuputzen.
Unter den christlichen Arbeitsmigranten stellen Katholiken – Filipinos vor allem und Inder, aber auch Tamilen, Afrikaner und Europäer – mit 80 Prozent die Mehrheit dar. Die Pfarrei St. Joseph in Abu Dhabi, die auch Amtssitz von Paul Hinder ist, dem für die Emirate, Jemen und Oman zuständigen Bischof von Südarabien, zählt 200 000 Mitglieder. Noch einmal 300 000 kommen in der Gemeinde von St. Mary’s in Dubai hinzu. Weitere 350 000 verteilen sich auf kleinere Pfarreien in den übrigen fünf arabischen Emiraten. Es gibt aber auch orthodoxe, koptische, armenische, anglikanische und evangelische Gemeinden, die zum Teil ihre eigenen Kirchen unterhalten oder aber bei anderen Denominationen zu Gast sind. Öffentlich in Erscheinung treten sie alle nicht. Christen geniessen in den Emiraten zwar Kultusfreiheit, sind bei der Ausübung ihres Glaubens jedoch an vielfältige Auflagen gebunden. Der Bau von Kirchen untersteht staatlicher Bewilligung; Türme und Glocken sind nicht gestattet, Konversionen strengstens untersagt. Gleichwohl betonen Vertreter vor Ort die relative Toleranz der Herrschenden sowie das gute Einvernehmen mit den für Bildung und Kultur zuständigen Regierungsvertretern. Diese wiederum scheinen zu wissen, was sie an den kirchlichen Einrichtungen haben. Die Kirchen, zumal die katholische, unterhalten nicht nur Spitäler und renommierte Schulen, sie sind auch der Ort, an dem die Gläubigen aus aller Herren Ländern sich zusammenfinden und Kraft für ihren zumeist beschwerlichen Alltag schöpfen.
Unter seinesgleichen sein
Von den Mühen des täglichen Lebens ist über die Osterfeiertage auf dem Areal zwischen St. Joseph’s Cathedral und St. Therese Church wenig zu spüren. Die Stimmung auf dem Platz ist festlich, der Umgangston herzlich. Man kennt sich, man trifft sich und tauscht sich aus. Man ist endlich einmal wieder unter seinesgleichen und fühlt sich respektiert. Dass an diesem Karfreitagabend der Gebetsruf des Muezzins von der nahegelegenen Moschee mitten hinein in die Lesung vom Leiden des Gottesknechtes (Jesaja 52,13–53,12) platzt, scheint hier, ausser den Besuchern aus der Schweiz, niemanden sonderlich zu irritieren. Man hat sich an die Allgegenwart des Islams gewöhnt und hält dagegen, indem man die Stimme erhebt oder lauter singt.
Mit Flucht und Exil kennen sie sich aus. Was Passion bedeutet, wissen sie. Im Leiden des Herrn finden sie auch ihr Leiden gespiegelt.
Glockengeläut kann man verbieten, nicht aber den Gesang, der vor keinen Mauern Halt macht und weit über das Kirchenareal hinaus zu hören ist. Damit müssen die Besucher der benachbarten Moschee ebenso leben wie die Christen mit dem Gebetsruf des Muezzins.
Die Präsenz christlicher Kirchen ist in den Emiraten allen Einschränkungen zum Trotz eine Realität. Am Karsamstag schaffen es die Osterfeierlichkeiten, zusammen mit den Attentaten von Brüssel und dem Kampf gegen den «IS» in Syrien, sogar auf die Frontseite der englischsprachigen Tageszeitung The National. «Christians flock to churches at start of Easter holidays» lautet der Titel eines längeren Artikels, in dem zwei dem Namen nach offensichtlich muslimische Journalisten von ihren Eindrücken während der Karfreitagsgottesdienste in Abu Dhabi und Dubai berichten. Sie haben mit Gläubigen gesprochen und zeigen sich beeindruckt sowohl von der Zahl der Anwesenden wie auch von der Vielfalt der gesprochenen Sprachen. Von 50 000 Besuchern wird am Ende der Osterfeierlichkeiten allein am Bischofssitz von Abu Dhabi die Rede sein. An die dreissig Gottesdienste in rund einem Dutzend Sprachen, darunter so exotische wie Malayalam, Sinhala und Konkani, wurden abgehalten – eine Parforceleistung für den gebürtigen Schweizer Paul Hinder und seine fünf aus Afrika, Indien, Irland, Deutschland und der Schweiz stammenden Mitarbeiter.
Wie sehr der Einsatz der Geistlichen geschätzt wird, zeigt sich, wenn sie vor oder nach dem Gottesdienst über den Platz gehen, Hände schütteln, Kinder segnen und freiwillige Helfer begrüssen. Anders als in der westlichen Welt geniessen Priester vor allem bei Filipinos und Indern grosse Verehrung. Die Art, wie hier der Glaube praktiziert wird, mag auf europäische Besucher ein wenig antiquiert wirken. Dass er aus tiefem Herzen kommt, ist jedoch offensichtlich. Man braucht nur zu sehen, wie andächtig sie der Liturgie folgen und wie ehrfürchtig sie die Hand ihres Bischofs an die Stirn führen, um zu ermessen, was diesen Menschen die Kirche bedeutet. Für sie sind Gottesdienste keine Dienstleistungen, die man in Anspruch nimmt, wenn es einem gerade passt. Der Gottesdienstbesuch entspricht einem religiösen Bedürfnis und ist darüber hinaus ein wirksames Mittel gegen Heimweh und die Leiden eines nicht selten erniedrigenden Alltags. «It feels like home», bekommt man immer wieder zu hören, wenn man die Leute fragt, was sie an ihrer Kirche schätzen. Den Gläubigen, die Woche für Woche in die Gottesdienste strömen, bietet die Kirche Halt und Orientierung, aber auch Wertschätzung und Anerkennung. Hier werden sie als Menschen ernst genommen und nicht nur als Arbeitskräfte benutzt, die man nach Belieben holen und wieder wegschicken kann.

Einblick in den Karfreitagsgottesdienst: Die Stimmung ist feierlich, die Kirche gut gefüllt.
Ostern ist für sie deshalb auch nicht einfach nur ein beliebiges Fest im christlichen Jahreskreis. Ostern erinnert an Ereignisse, die sie selbst erfahren haben. Alle, die hierherkommen, sind Migranten, in die Fremde aufgebrochen aus politischer Notwendigkeit oder materieller Not. Mit Flucht und Exil kennen sie sich aus. Was Passion bedeutet, wissen sie. Im Leiden des Herrn finden sie auch ihr Leiden gespiegelt. In der Botschaft von der Befreiung aus Knechtschaft und Unterdrückung liegt auch ihre Hoffnung begründet. «He is risen» steht während des Osternachtgottesdienstes in leuchtend grossen Lettern über dem Altar geschrieben. Für die Menschen hier ist der Satz mehr als nur ein Satz aus der Jahr für Jahr sich wiederholenden Liturgie.
Entsprechend würdig gestalten sich denn auch die Feierlichkeiten in der Osternacht. Noch mehr Menschen als sonst drängen sich auf dem grossen Platz zwischen den beiden Kirchen. Und sie sind noch festlicher gekleidet als am Abend zuvor. Kein Aufwand, so scheint es, ist gescheut worden, um Hemden zu stärken, Rüschen aufzubügeln und Haare zu frisieren.
Auch das Spiel von Sehen und Gesehenwerden gehört dazu, wenn Angehörige einer Gemeinschaft sich zum Feiern zusammenfinden.
Manche der Damen tragen lang. Unter bunten Mädchenröcken raschelt der Tüll. Im exakt gescheitelten Haar der Buben glänzt das Gel. Auch das Spiel von Sehen und Gesehenwerden gehört dazu, wenn Angehörige einer Gemeinschaft sich zum Feiern zusammenfinden. Als jedoch das Licht ausgeht und Dunkelheit sich über die vieltausendköpfige Menge senkt, tritt eine Stille ein, als ob die Menschen den Atem anhielten.
Kein Laut ist zu hören, kein Hüsteln und Räuspern, ja nicht einmal das Quengeln eines kleinen Kindes. Schweigend sind sie vereint in Erwartung des Lichts, das in die Finsternis scheint – in ihre eigene wie in die Finsternis der Welt um sie herum. Im März dieses Jahres sind in Jemen vier Nonnen ermordet worden. Ein entführter indischer Priester befindet sich noch immer in der Hand von Islamisten. Wenn in den Gottesdiensten für sie gebetet wird, ist auch das Wort von der Finsternis mehr als nur eine biblische Metapher.

Die Gottesdienstbesucher stammen aus den verschiedensten Ländern, etwa von den Philippinen, aus Indien oder Sri Lanka. Sie alle sind der Arbeit wegen nach Abu Dhabi gekommen.
Bei aller vordergründigen Toleranz sind die Christen im arabischen Raum nach wie vor eine exponierte Minderheit, denen die Kirche nur bis zu einem gewissen Grad Schutz zu bieten vermag. In seinem dieser Tage erschienenen Buch Als Bischof in Arabien vergleicht der Schweizer Kapuziner Paul Hinder seine Kirche deshalb mit einem «Feldlazarett», in das Menschen ihre Verletzungen, aber auch ihre Hoffnung auf Heilung tragen. Hinder liebt dieses Bild, weil es auf eine Kirche anspielt, die sich nicht hinter Mauern verschanzt, sondern die hinausgeht und dort Hilfe leistet, wo sie am dringendsten gebraucht wird. Und das ist, so Hinder, bei all den Arbeitsmigranten in seiner Diözese, deren Wert sich nur «nach den Steinen» bemisst, «die sie schleppen, nach den Asphaltmetern, die sie walzen, nach den Schrauben, Nägeln oder Bolzen, die sie einhämmern». Aus diesem Dasein fliehen viele, vor allem junge Männer, in Sex und Alkohol, viele finden aber eben auch in einer Kirche Zuflucht, die sie auffängt und als vollwertige Menschen respektiert. Für einen Seelsorger wie Paul Hinder ist diese Situation herausfordernd und inspirierend zugleich: herausfordernd, weil ihm oft die Hände gebunden sind, wenn er sich um das Wohlergehen seiner Schutzbefohlenen sorgt, und inspirierend, weil hier die Herde dem Hirten zeigt, dass die Kirche im wahrsten Sinn des Wortes lebensnotwendig sein kann.

Der Schweizer Kapuziner Paul Hinder ist als Bischof von Südarabien auch für die Emirate zuständig. Er wünscht sich eine Kirche, die sich nicht hinter Mauern versteckt, sondern Hilfe bietet, wo sie kann.
Als wir am Sonntagabend nach dem letzten der vielen Gottesdienste das Areal der St. Joseph’s Cathedral verlassen, begleiten uns der Segen des Priesters und der Gebetsruf des Muezzins gleichzeitig. Wir nehmen beides mit in der Hoffnung, es könnten Kirche und Moschee auch anderswo so friedlich nebeneinander existieren wie in diesem Stadtteil von Abu Dhabi am Persischen Golf.
Paul Hinder: Als Bischof in Arabien. Erfahrungen mit dem Islam. Herder-Verlag, 2016; 208 Seiten; 28.90 Franken.
Die Publizistin Klara Obermüller war Redaktorin bei der NZZ und der Weltwoche, danach moderierte sie die SRF-Sternstunde Philosophie. Sie lebt in Männedorf ZH.