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Autorin: Barbara Lukesch
Illustration: Jannis Pätzold
Freitag, 10. Februar 2017

Claudia P. hatte sich in den Leiter der Jugendgruppe ihrer Kirchgemeinde verliebt. Alles, was er mit ihnen unternahm, fand sie spannend. Dazu sah er toll aus und war immer so freundlich zu ihr. Sie war 18, er 35, verheiratet und bereits Vater. Auf einer mehrtägigen Pfingstreise war er ihr gegenüber noch aufmerksamer als sonst und liess seinen ganzen Charme spielen. Als sie merkte, dass er ihr immer näher kam und mit ihr schlafen wollte, fühlte sie sich «extrem unwohl» und verweigerte sich ihm: «Ich wollte damals nur mit einem Mann Sex haben, mit dem ich mir auch vorstellen konnte, Kinder zu bekommen.» Er versuchte ihren Widerstand zu brechen, indem er ihr von einer anderen jungen Frau aus der Jugendgruppe erzählte, die auch mit ihm im Bett gewesen sei. Claudia P. war verwirrt, blieb aber bei ihrem Nein. «Ich empfand die Situation als sehr belastend», erinnert sie sich.

Nach ihrer Heimkehr von der Pfingstreise kontaktierte sie die Kollegin, und die beiden beschlossen, den Mann anzuzeigen. Als dessen Ehefrau davon erfuhr, flehte sie die beiden jungen Frauen an, es nicht zu tun. Sie lenkten ein – unter der Bedingung, dass er künftig nicht mehr mit Jugendlichen arbeiten werde.

Dieser Fall trug sich vor rund dreissig Jahren in einer reformierten Kirchgemeinde zu. Abgesehen von den direkt Betroffenen erfuhr kaum jemand davon. Sexuelle Grenzverletzungen waren damals noch kein Thema, nicht in den Medien, geschweige denn in kirchlichen Kreisen.

Nicht nur im katholischen Umfeld

Mitte der neunziger Jahre sorgten die ersten Fälle von Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche weltweit für Aufsehen, und Fragen zu Präventions- und Interventionsmassnahmen wurden öffentlich diskutiert. 1999 «holte die Realität dann auch die reformierte Kirche ein», wie die Aargauer Zeitung schrieb: Nachdem mehrere Frauen den Pfarrer von Umiken bei Brugg wiederholter sexueller Übergriffe beschuldigt hatten, kündigte ihm der Kirchenrat die Stelle. 2012 wurde ein Pfarrer in der Reformierten Kirchgemeinde Bremgarten-Mutschellen entlassen, nachdem er mit einer Frau, die er als Seelsorger betreute, geschlafen hatte, wie der Tages-Anzeiger berichtete. Diese Fälle haben Schlagzeilen gemacht, weitere dürften verborgen geblieben sein. Fachleute betonen immer wieder, dass die Dunkelziffer bei sexuellem Missbrauch ganz besonders hoch sei.

Die Repräsentanten der reformierten Kirchen wähnten sich bei diesem Thema lange Zeit in Sicherheit. Man ging davon aus, dass das brisante Thema nur die katholische Kirche betreffe, wo der Nährboden für sexuelle Übergriffe wegen des Zölibats, der Sexualfeindlichkeit, der Ausgrenzung von Homosexuellen und des Ausschlusses von Frauen ideal schien. «Nein», sagt Sabine Scheuter, Gender-Spezialistin bei der Reformierten Kirche Zürich, «Grenzverletzungen bis hin zu sexuellem Missbrauch kommen auch in unseren Reihen vor.» Pfarrerinnen auf Konfirmandenreise könnten Grenzen genauso überschreiten wie Sozialdiakone, die einen Krankenbesuch machen, oder Freiwillige, die in einem Jugendlager mithelfen.

In solchen Konstellationen haben Menschen über längere Zeit mit Menschen zu tun und entwickeln im besten Fall vertrauensvolle Beziehungen, in denen es auch zu körperlichen Berührungen kommen kann. Natürlich dürfe ein Pfarrer einer dementen, alten Frau über den Arm streichen oder einem Konfirmanden die Hand auf die Schulter legen, so Scheuter. Gleichzeitig müsse er sich aber bewusst sein, dass die Rollen klar verteilt seien: Hier der Vertreter der Kirche, dessen Amt ihm eine gewisse institutionelle Macht verleiht, ihm aber auch Verantwortung auferlegt; dort Kinder und Jugendliche, Kranke, oft auch Hilfs- und Anlehnungsbedürftige, die einen besonderen Schutz brauchen. In diesem Spannungsfeld, führt Scheuter aus, entstünden Abhängigkeiten, die niemals missbraucht werden dürften zur Befriedigung eigener Bedürfnisse.

Die Theologin schildert das Beispiel einer Frau, Mitte vierzig, unglücklich verheiratet und in regem seelsorgerlichem Austausch mit dem Pfarrer. Anders als ihr Mann höre dieser ihr zu, sei freundlich und wertschätzend – und sie fühle sich sehr wohl in seiner Gegenwart, ja sie sei vielleicht sogar ein bisschen verliebt. «Menschen in einer Krise», so Scheuter, «sind häufig offener und berührbarer. Umso wichtiger ist es, dass sich ein Seelsorger seiner professionellen Rolle bewusst ist und die nötige Distanz wahrt, ohne sein Gegenüber zu kränken.» Auch Jugendarbeiter müssten Knaben oder Mädchen manchmal in die Schranken weisen, die sich sehr freizügig kleideten oder sich ihnen gar auf den Schoss setzten. Scheuter seufzt. Es sei eine der schwierigsten Aufgaben, eine Linie zwischen erlaubter, ja erwünschter Nähe und einer Grenzverletzung zu ziehen: «Da braucht es ein differenziertes Bewusstsein für die eigenen Bedürfnisse, aber auch für die Empfindungen anderer.»

Massnahmen gegen Missbrauch

Um dieses Bewusstsein zu schärfen, ist Prävention nötig. Innerhalb der reformierten Kirchen hat sich diese Erkenntnis in den letzten Jahren durchgesetzt. In den Kantonen Aargau, Zürich und Baselland ist es den Theologinnen und Gender-Fachfrauen Sabine Brändlin, Sabine Scheuter und Judith Borter zu verdanken, dass das Thema vermehrt ernst genommen und zunehmend auch in die Aus- und Weiterbildung integriert wird. Scheuter findet es besonders erfreulich, dass sich nun auch der Kirchenbund des schwierigen Dossiers annehme und es damit auf nationaler Ebene deutlich mehr Beachtung erfahre.

Janine Graf, Sozialwissenschaftlerin und Präventionsfachfrau, arbeitet eng mit den Vertreterinnen der reformierten Kirchen zusammen. Bis vor einiger Zeit war sie auch Geschäftsführerin des Vereins mira, der sich im Freizeit- und Sportbereich gegen sexuelle Gewalt engagiert. Sie weiss, wie bedeutsam es ist, dass sich die Leitung einer Organisation zu einem nach wie vor tabuisierten Thema wie sexuelle Grenzverletzungen bekennt: «Um Missbrauch vorzubeugen», sagt Graf, «müssen die Vorgesetzten eine klare Haltung einnehmen.» Die müsse jede Organisation für sich definieren. Denkbar wäre das Statement: In unseren Reihen wird jedem Verdacht auf Grenzverletzungen nachgegangen.

Gleichzeitig müsse Betroffenen vermittelt werden, dass es innerhalb der Kirche Ansprechpersonen gebe, mit denen sie in einem geschützten Rahmen über ihre Erlebnisse sprechen können. In Zürich ist das beispielsweise Sabine Scheuter. Wichtig sei auch, dass sich die Verantwortlichen in Mitarbeitergesprächen regelmässig nach Erfahrungen erkundigten, die in den Bereich Nähe-Distanz gehören, damit allen klar werde, dass das Thema in diesem Haus so selbstverständlich sei wie der Arbeits- oder Brandschutz. «All diese Massnahmen», erklärt Graf, «führen zu einer Kultur der Achtsamkeit und Offenheit, in der sich Betroffene schneller Hilfe holen. Und das wirkt ebenfalls abschreckend auf potenzielle Täter, weil sie wissen, dass solche Vorfälle nicht länger tabuisiert und unter den Teppich gekehrt werden.»

Was soll ein Seelsorger tun, wenn ihm eine Frau in einem Gespräch um den Hals fällt? Darf ein Lagerleiter noch alleine in ein Mädchenzimmer gehen? Wie intensiv kann eine Pfarrerin den Kontakt zu einem Mitglied ihrer Kirchgemeinde pflegen, ohne ihre Professionalität einzubüssen? Um solche Fragen dreht sich die Arbeit von Sabine Brändlin, Präventionsbeauftragte der Reformierten Landeskirche Aargau und verantwortlich für das Projekt «Schutz vor Grenzverletzungen und sexuellen Übergriffen».

Die 43jährige Pfarrerin lässt keinen Zweifel daran, dass das schwierige Themenpaket für sie hohe Priorität geniesst: «Auch in der reformierten Kirche brauchen wir eindeutige Standards, wie wir mit einzelnen Fällen umgehen und Prävention betreiben.» Denn es gehe eben nicht nur um schwere Delikte, die diskussionslos als solche erkannt und geächtet würden, sondern auch um Alltagssituationen, in denen alle sorgfältig darauf achten müssen, wie viel Nähe sie zulassen dürfen oder wann sie Grenzen ziehen müssen.

Seit rund zwei Jahren widmet sich Brändlin der Präventionsbeziehungsweise Interventionsarbeit. Seither ist sie mit acht Fällen konfrontiert gewesen. Dabei ging es um sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz Kirche, Grenzüberschreitungen im Seelsorgebereich oder sexuelle Übergriffe gegenüber Kindern und Jugendlichen.

Sobald ein solcher Vorfall auf ihrem Pult landet, tritt das sogenannte Interventionsschema in Kraft. Der Krisenstab — bestehend aus dem Kirchenratspräsidenten, der Juristin und dem Kommunikationsverantwortlichen der Landeskirche sowie ihr als Präventionsverantwortlichen — nimmt die Arbeit auf. Seit rund einem Jahr haben zudem fast alle Aargauer Kirchgemeinden eine Kontaktperson zum Thema der Prävention ernannt, die speziell geschult wird. Die Kontaktpersonen werden sofort beigezogen, wenn eine Grenzverletzung ruchbar wird. Eine ihrer Aufgaben besteht darin, den Informationsfluss zu kontrollieren, um Angeschuldigte vor rufschädigenden Vorverurteilungen zu bewahren. Brändlin nickt: «Das ist eine echte Herausforderung in einem kleinräumigen, ja dörflichen Umfeld wie dem Kanton Aargau, wo alle einander kennen.»

Brändlins Ziel ist es, alle 180 Pfarrerinnen, die rund 60 Sozialdiakone und die zahllosen freiwilligen Mitarbeitenden der Kirchgemeinden für das Thema zu sensibilisieren. Diesen Teil ihrer Arbeit bezeichnet sie als «individuumsorientiert». In Kursen werden die Teilnehmenden anhand fiktiver Beispiele in das Thema eingeführt. Brändlin fordert: «Das Wissen um Grenzverletzungen muss im Alltag so präsent sein wie die Sicherheitsregeln im Schwimmunterricht.»

Gleichzeitig verfolgt die Präventionsbeauftragte einen «strukturorientierten» Ansatz, damit das Thema in der Institution verankert wird. Diesem Ziel dienen der Krisenstab und die Kontaktpersonen, aber auch Personalverantwortliche, die bei Neueinstellungen die Kandidaten und ihre Referenzen sorgfältig prüfen. Im jährlichen Mitarbeitergespräch soll die Frage angeschnitten werden, ob die einzelnen im Verlauf des Jahres eine Situation erlebt haben, in der sie unsicher gewesen seien bezüglich Nähe und Distanz. Zudem sollen alle Mitarbeitenden und Freiwilligen eine Selbstverpflichtung unterschreiben, in der sie erklären, dass sie um die Bedeutung des Themas Grenzverletzungen und sexuelle Übergriffe wissen und sich korrekt verhalten werden.

Seitdem der Schweizerische Evangelische Kirchenbund (SBK) an seiner letzten Ratssitzung beschlossen hat, die bereits laufende Präventionsarbeit der Landeskirchen bezüglich Koordination und Kommunikation zu unterstützen, ist Brändlin zuversichtlich: «Es gehört zum Kern des christlichen Glaubens, sich gegen jede Form von Gewalt und Machtmissbrauch zu engagieren, deshalb ist diese Arbeit ein Muss.» bl