Wer die Gottesdienste von Stephan Landis in der Zürcher Kirche Fluntern besuchte, wurde Zeuge kleiner literarischer Ereignisse. In seinen Predigten tauchte auch mal König Lear auf, oder er dachte mit einem Gedicht von Emily Dickinson über eine Stelle im Markusevangelium nach. Stets suchte er dabei das Flüchtige und Unperfekte – alles Dogmatische und Starre dagegen war ihm zuwider. Das eben erschienene Buch Anderswohin. 13 Dienstreisen durch die Bibel gibt Einblick in die Vielfalt von Landis’ Predigten.
Landis arbeitete viele Jahre als Lateinlehrer, später als Chefredaktor bei der Reformierten Presse sowie als Autor und Lektor beim Theologischen Verlag Zürich. Erst 2015, mit 54 Jahren, fand er zum Pfarrberuf. Drei Jahre später erkrankte Landis an Demenz und musste seine Arbeit niederlegen.
Bis zu seiner Diagnose teilte Tania Oldenhage das Pfarramt mit ihm. Die beiden verbindet die Liebe zur Literatur und zur englischen Sprache. Tania Oldenhage lebte lange in den USA und forschte und lehrte dort zu Gleichnissen in der Bibel, bevor sie vor neun Jahren in Fluntern das Pfarramt übernahm. In Absprache mit Stephan Landis spricht sie im Interview über ihre Zeit als seine Kollegin, über seine unkonventionelle Theologie und seine unverwechselbare Art zu predigen. Ausgewählte Passagen aus dem Buch Anderswohin ergänzen das Gespräch mit Tania Oldenhage.
Frau Oldenhage, Ihr Pfarrkollege Stephan Landis ist an Demenz erkrankt. Wann haben Sie bemerkt, dass etwas nicht stimmt?
Lange Zeit gar nicht. Demenz beginnt ja schleichend. Hinzu kam, dass Stephan mir immer wie ein intellektueller Hochleistungssportler vorkam. Er war leidenschaftlich bei den biblischen Texten und seinen Lieblingsautoren. Wenn wir uns trafen, hat er mich oft, ehe ich mich’s versah, in Gespräche über Literatur und Theologie verwickelt.
Gerade bei so einem Menschen müssten plötzlich auftretende Schwächen im Denken doch auffallen.
Das stimmt, und trotzdem war er lange Zeit noch voller Phantasie. Nur seine manchmal geäusserte Sorge, dass ihm die Ideen ausgehen könnten, interpretiere ich im Rückblick als Hinweis darauf. Im Frühling vergangenen Jahres rief er mich dann an und sagte, dass er eine Abdankung nicht übernehmen könne, obwohl er die Verstorbene eng begleitet hatte. Dann erzählte er mir, dass er sich in medizinischer Abklärung befinde. Es bestehe Verdacht auf Demenz.
Was hat das mit Ihnen gemacht?
Ich habe ehrlich gesagt zu allererst an seine Frau Renate gedacht. Sie hat Stephan fast immer zu den Gottesdiensten in Fluntern begleitet. Der Anblick der beiden nebeneinander hatte etwas Friedliches und hat mich immer berührt. Man merkte, wie nah sie sich sind. Mein erster Gedanke war: Was kommt auf die beiden jetzt alles zu?
Stimmt es, dass Stephan Landis von sich aus seine Erkrankung öffentlich gemacht hat?
Das ist so. Er hat Mitgliedern aus der Gemeinde bereits in einem frühen Stadium kommuniziert, dass er an Demenz erkrankt sein könnte. Irgendwann entschloss er sich, dies auch über die Kirchenzeitung mitteilen zu lassen. Mich beeindruckt bis heute sein Umgang mit der Krankheit. Sein Outing ist mutig.
Warum?
Stephan stand als Pfarrer noch mitten im Berufsleben. In der Gemeinde erzählte er, dass er ein Buch über London schreibe. Die Leute haben ihn als einen wortgewandten Intellektuellen wahrgenommen und geschätzt – das machte ihn aus.
Ich erinnere mich an eine Predigt von ihm zu Exodus 25. Darin sagt Gott zu den Menschen, wie sie ihm einen Altar bauen sollen – nämlich aus unbehauenen Steinen. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, darüber zu predigen. Stephan natürlich schon. Es ist das Ungeschliffene, das ihn fasziniert.
Zu realisieren, dass die Denkleistung kontinuierlich schwindet und dieser Prozess nicht zu stoppen ist, muss schlimm sein. Viele schweigen in solch einer Situation aus Scham oder Eitelkeit. Nicht so Stephan: Bis heute spricht er, so gut er noch kann, offen über seine Krankheit. Damit hilft er auch all jenen, die Angst haben, ihm gegenüber in dieser Situation etwas Falsches zu sagen.
Stephan Landis ist bekannt für seine Predigten. Sie sind so gut, dass sie nun sogar in Buchform erschienen sind.
Ich erlebte mehrmals, dass Leute noch Tage später von seiner Predigt schwärmten. Sie sind tatsächlich eine Klasse für sich.
Was macht er anders?
Das ist nicht ganz einfach in Worte zu fassen. Stephans Predigten leben von seiner Liebe zur Sprache. Man spürt, dass da ein theologischer Denker und ein ungewöhnlicher Poet am Werk ist, der an den richtigen Stellen auch immer wieder seinen herrlich selbstironischen Humor durchscheinen lässt. Was mir rasch auffiel: Für Stephan ist die biblische Tradition eine Art Spielball, mehr Anregung als Botschaft. Er verknüpft sie etwa mit Shakespeare – und zwar nicht, um der Bibel irgendwelche Pointen zu entlocken, sondern um festgefahrene Deutungen aufzubrechen. Poesie lockert den Erdboden, hat er einmal gesagt. Dazu kommt seine grosse Faszination für die Welt des Theaters. In einer der Predigten, die nun veröffentlicht wurden, vergleicht er Gott mit einem Theatermacher, der noch nicht genau weiss, wie sein Stück ausgehen wird.
Gott als Theatermensch
Manchmal überfällt mich ein Sprachbild richtiggehend und lässt die Gedanken sprudeln, öffnet neue Türen, weckt Hoffnungen. So ist es mir mit der Metapher des Texts aus dem Epheserbrief gegangen: «Zieht an den neuen Menschen, der nach dem Willen Gottes geschaffen ist.» Eine seltsame Aufforderung: Den neuen Menschen anziehen wie ein Kleid. (…)
Wäre dann das Leben, das Menschsein, auch das Christsein eine andauernde Kleiderprobe? Vielleicht, ja. (…)
In Kleiderläden fühle ich mich nicht wohl. Kleiderproben verbinde ich seit meiner Kindheit lieber mit dem Verkleiden, mit der Kostümprobe im Theater. Schon als Kind, seit dem ersten Krippenspiel und seit dem ersten Schultheater, habe ich gern auf der Bühne gestanden. (…) Ich kann mich gut erinnern, wie in einer grösseren Aufführung in der Mittelschule die Stillen plötzlich Seiten ihrer Persönlichkeit zeigten, die man vorher höchstens geahnt hatte. Niemand kann etwas spielen, was er nicht in sich trägt. Aber das Theater kann helfen, Verborgenes ans Licht zu bringen, Neues auszuprobieren, was man bisher nicht wagte. (…)
Und diesen Rollentausch gibt es nicht nur beim Epheserbrief. Viele sehen ja die Bibel als Gottes Wort, wissen aber auch, dass sie zugleich Menschenwort ist. Rollentausch also auch hier. Dann wäre letztlich auch Gott Autor unseres Theaterstücks? (…)
Gott als Theaterautor würde also, so stelle ich es mir vor, ein Stück schreiben, das viele Möglichkeiten offenlässt. Das war auch in jener Theaterepoche so, die unserer Kultur die stärksten Impulse und die tiefsten Einsichten geschenkt hat: in der Zeit William Shakespeares. Er hat seine Texte randvoll mit Möglichkeiten für die Schauspieler gefüllt, mit Metaphern, mit Impulsen für Handlungen, Gesten, Emotionen, Gedanken. Zugleich hat er viel Freiheit gelassen, Möglichkeiten zu realisieren oder sie schlummern zu lassen, je nach Individualität. (…)
In Shakespeares Theater war nicht viel Zeit für Proben, denn fast schon jeden Tag erwartete das Londoner Publikum ein neues Stück. Die Schauspieler erhielten zur Vorbereitung und zum Auswendiglernen nur eine Abschrift ihrer eigenen Rolle und dazu ein, zwei Stichwörter für ihre Einsätze. Sie kannten also nicht das ganze Stück, sondern mussten sich auf ihren Part konzentrieren, auf seine funkelnde Sprache, um möglichst viel daraus zu machen. Der Rest war mehr oder weniger Überraschung. Im Skript stand nicht einmal, wer von den Kollegen einem die Stichwörter lieferte. So wusste man vielleicht gerade noch, dass man eine Liebeserklärung erhalten würde – aber nicht, von wem! (…)
Jesus selbst spricht mehr vom Kommenden als vom Vergangenen, mehr von der neuen Möglichkeit als vom Gewicht der Tradition. Seine Gleichnisse können als Ballzuwerfen verstanden werden, als Einladung zum Spiel. Sie sind weniger eine Lehre, sondern eher ein Lernen und Entdecken. Ja, auch eine Kirchgemeinde mit Theatertruppe wäre eine Freude.
Die Stimme der Turteltaube
«Wenn du mir aber einen Altar aus Steinen errichtest, so darfst du ihn nicht aus behauenen Steinen bauen, denn du hast sie mit deinem Meissel bearbeitet und sie damit entweiht.» Ex 20, 24–25
Keine behauenen Steine. Gott sucht nicht die glatte Oberfläche, die perfekte Geometrie. Er hat seine Freude am Geheimnis des Eigenartigen. Vielleicht kann man das mit Worten gar nicht richtig ausdrücken. Am tiefsten hat es sich mir in einem Stück Musik eingeprägt, dem erstaunlichsten Musikstück, das ich kenne. Es ist ein Anthem, anglikanische Kirchenmusik von Henry Purcell zu einem Text aus dem Hohenlied, das den kommenden Frühling besingt: Der Feigenbaum treibt die grünen Feigen aus, begleitet von einer Violine, deren Melodie sich dreht und windet, dass man die Mühsal und den Schmerz des Austreibens spürt, wie bei einer Geburt. Und dann tönt die Stimme der Turteltaube im Land. Die Musik imitiert nicht den Gesang des Vogels. Sie zeigt nicht das Vertraute, das wir einordnen können. Nein, sie macht die Seltsamkeit der Welt, die Eigenart, die Individualität dieser Kreatur in einem verstörenden harmonischen Wechsel hörbar. Fast verliert man dabei den Boden unter den Füssen, wie im Flugzeug, in einem Luftloch. Die Begegnung mit der Intensität des Schrägen, mit dem Eigenwillen der Welt erschüttert uns in dieser Musik. (…)
Lange Zeit war es eher selten, dass man gegen den Vorrang des Allgemeinen Einspruch erhob. Eine der poetischsten solcher Stimmen war jene des englischen Dichters Gerard Manley Hopkins. Er hatte versucht, die innere Gestalt, den Glanz jedes einzelnen Lebens, jedes Dings zum Leuchten zu bringen. Etwa im Gedicht «Pied Beauty – Gefleckte Schönheit»:
Ehre sei Gott für gesprenkelte Dinge – für Himmel zweifärbig wie eine gefleckte Kuh; für rosige Male alle hingetüpfelt auf schwimmender Forelle; Kastanienfall wie frische Feuerkohlen; Finkenflügel; Flur gestückt und im Flicken-Feldrain, Brache und Acker; und alle Gewerbe, ihr Gewand und Geschirr und Gerät.
Alle Dinge verquer, ureigen, selten, wunderlich; was immer veränderlich ist, scheckig (wer weiss wie?) mit schnell, langsam; süss, sauer; blitzend, trüb; was er hervorzeugt, dessen Schönheit wandellos: Preis ihn.
(…) In der Religion braucht es keine Einheitspartei, keine Disziplinierung, keine unité de doctrine. Nein, es braucht unbehauene Steine und Menschen, die in Freundschaft miteinander um die grossen Fragen streiten. Es braucht Menschen, die den Widerspruch stehen lassen, so wie Gott unseren Widerspruch gelten lässt und das Geheimnis unserer Identität liebt.
Dann wird uns auch der Glanz des Seltsamen überraschen, der Eigensinn der Dinge und der Kreaturen. Und vielleicht werden wir die Stimme der Turteltaube hören, fremd und schön.
An anderer Stelle kritisiert er eine Theologie von «überzüchteten Pflanzen mit schwerem Aroma», stattdessen plädiert er für mehr «Wildwuchs». Was meint er damit?
Eben, mehr Wildwuchs!
In der Jugendarbeit stellte Stephan sich einfach hin und erzählte. Ein Mädchen sagte mir einmal, man habe bei ihm gespürt, dass er ihnen das weitergeben wolle, was er selbst liebe. Gibt es ein grösseres Kompliment?
Sich also nicht nur bei den bekannten Bibelstellen aufhalten, sondern auch die abseitigen aufsuchen. Durch Stephan entdeckte ich so manchen Bibeltext neu. Ich erinnere mich an eine Predigt von ihm zu Exodus 25. Darin sagt Gott zu den Menschen, wie sie ihm einen Altar bauen sollen – nämlich aus unbehauenen Steinen. Ein total sperriger Text. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, darüber zu predigen. Stephan natürlich schon. Ein Kollege hat ihn dazu inspiriert. Für Stephan ist der behauene Stein, das Glatte, das Normierte leblos, tot. Es ist das Ungeschliffene, das ihn fasziniert.
In dieser Predigt lobt er — mit den Worten des englischen Poeten Gerard Manley Hopkins — die «Schönheit des Gefleckten» und des Einzigartigen.
Genau, er geht vom Einzelnen und Besonderen aus. Anders als die klassische Philosophie, die das Allgemeine und Ideale zum Mass erhebt. Stephan war überzeugt: Erst die Vielfalt und die Unvollkommenheit, das ganz Partikuläre macht uns kreativ. Alles Glatte und Perfekte hingegen hindert uns daran, eine eigene Sprache zu finden und neue Gedanken zu fassen. Seine Texte sind verspielt, einfallsreich – und sie gehen immer von etwas Konkretem aus.
Das macht seine Predigten zugänglich.
Jeder kann sie verstehen, auch wenn sie intellektuell sind. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Stephan hat regelmässig ein Heim für Menschen mit einer psychischen Krankheit besucht. Er mochte diese Menschen sehr, und sie mochten ihn. Sie vermissen ihn. Neulich habe ich sie besucht und ihnen eine Stelle aus dieser Predigt vorgelesen. Sie haben genau verstanden, was er mit der «Schönheit des Gefleckten» meinte.
Er hat sich also auch sozial engagiert. Wo würden Sie ihn politisch verorten?
Stephan sagt von sich, er sei durch und durch ein Liberaler. Und er stehe auf der Seite der Schwachen. Aber mit dem sogenannten prophetischen Wächteramt, also mit diesem anwaltschaftlichen Verständnis von Kirche, kann er nichts anfangen.
Woran machen Sie das fest?
Ich kann mich an eine Diskussion mit Stephan anlässlich einer Konferenz in Zürich erinnern. Wir Teilnehmerinnen sollten sagen, was uns an der Kirche am wichtigsten ist. An zweiter Stelle stand das prophetische Wächteramt. Auch ich bin davon begeistert, denn ich verbinde damit ein linkes, progressives Selbstverständnis und den Willen, sich in die Gesellschaft einzumischen. Doch Stephan hat sich über die Rede vom Wächteramt aufgeregt.
Warum?
Er stört sich nicht am Anwaltschaftlichen an sich, doch er verabscheut es, wenn man sich das selbstherrlich auf die Fahne schreibt. Ich glaube, für ihn ist das prophetische Wächteramt eine hohle Floskel, so ein Schlagwort mit kirchlichem Gestus. Alles, was nach Parole und platter PR klingt, ist nicht seines.
Die reformierte Kirche tendiert aber heute genau dazu: ein einheitliches Profil, eine klare Identität und eingängige Statements.
Stephan hat mit mir den Anfang der Zürcher Strukturreform erlebt. Plötzlich ging es tatsächlich um die Suche nach einer klaren reformierten Identität. Nach Wiedererkennbarkeit. Man redete davon, den Wildwuchs zu bändigen. Das Profil zu stärken. So einleuchtend das klingen mag – Stephan hat dieser Trend manchmal richtig beelendet. Er teilte mit mir die Sorge, dass durch die Suche nach klaren Linien der theologische Spielraum schrumpft.
Zusammen ist uns klar geworden: Die Leute wollen von uns Pfarrerinnen und Pfarrern überrascht und nicht bevormundet werden. Ihr Horizont ist mindestens so weit wie unserer.
Stephan Landis rechnet im Buch auch mit «sola scriptura» ab, dem reformierten Schlagwort schlechthin.
«Sola scriptura» hört sich erstmal gut an: Schön reformiert, jetzt wissen wir wieder, wer wir sind. Aber Stephan schreibt mehrmals, dass «sola scriptura» viel kaputt machen, ja töten kann, wenn man den Bibeltext mit Scheuklappen liest und dabei nicht mehr nach links oder rechts schaut.
Er selber hat Theologie auch in den Gedichten einer Emily Dickinson oder bei einem Mark Twain gefunden. Ich glaube, für Stephan besitzt Poesie genauso viel religiöse Qualität wie ein Bibeltext. Sein Zugang ist radikal intertextuell.
Die Rechtfertigungslehre ist nicht die Quintessenz unseres Glaubens: ein weiterer ketzerischer Gedanke von Stephan Landis, der sich in einer Predigt findet.
Ich vermisse es, mit ihm über genau solche Fragen zu diskutieren. Aus meiner Sicht funktioniert die Rechtfertigungslehre oft als Floskel. Natürlich kann man sagen: Egal welche Krisensituationen, egal welches Scheitern, egal welche Schuld – wir sind trotzdem angenommen. In etwa so übersetzt man ja heute den Gedanken der Rechtfertigung. Ich finde es überhaupt nicht ketzerisch zu sagen, dass es im reformierten Glauben vielleicht noch um ganz andere zentrale Themen gehen könnte.
Zum Beispiel?
Ich denke da an konkrete politische und gesellschaftliche Dinge. Wo hilft uns die biblische und reformierte Tradition in der Flüchtlingsarbeit? In der Debatte zum Klimawandel? In vielen biblischen Texten steckt ein gesellschaftskritischer «Drive». Wie können wir glaubhaft und ohne moralisierendes Pathos daran anknüpfen? Das sind die Fragen, die mich als reformierte Theologin am meisten beschäftigen.
Wohnen in der Möglichkeit
«I dwell in possibility – Ich wohne in der Möglichkeit.» So beginnt ein berühmtes Gedicht von Emily Dickinson. Der Vers begleitet mich seit vielen Jahren. Er weckt in mir die Sehnsucht, auch in dieser Wohnung zu leben. Und ich kann ihn nicht vergessen, wenn ich an den grossen Satz «Alles ist möglich dem, der glaubt» aus der seltsamen, komplizierten, wilden biblischen Geschichte aus dem Markusevangelium (Mk 9,17–27) denke. (…)
Was aber ist gemeint? Welche Möglichkeiten, welcher Glaube? Manche Theologen tun sich mit diesem Glauben schwer, mit dieser Kombination von Glauben und Möglichkeit.
Glaube kann hier nicht das bedeuten, was wir sonst meist darunter verstehen. Die Kirche predigt seit fast zweitausend Jahren nicht so sehr den Glauben, der in der Verkündigung von Jesus und in seinen Geschichten zum Ausdruck kommt. Die Kirche selbst ist erst mit Ostern entstanden. Ihre Perspektive ist nachösterlich. Sie setzt Tod und Auferstehung Jesu voraus. Ihr geht es nicht um den Glauben von Jesus, sondern um den Glauben an den gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus, an sein Erlösungswerk, durch das er die Menschen in seinem Tod und in seiner Auferstehung erlöst hat.
Das birgt die Gefahr, dass daneben die Impulse von Jesus selbst vergessen gehen. Sein Blick geht nicht zurück auf sein Heilswerk, sondern in die Zukunft. Es geht in dieser Geschichte nicht um den Glauben an etwas Gegebenes, etwas Vergangenes, an eine Tatsache, und sei es eine Heilstatsache, eine Heilsgeschichte. Der Glaube, den Jesus hier meint, hängt vielmehr mit dem Möglichen zusammen, von dem er spricht. Nicht mit der Vergangenheit, sondern mit der Zukunft. (…)
Der Satz «Wer glaubt, dem ist alles möglich» heisst eben nicht bloss: Wer glaubt, kann alles. Sondern: Wer glaubt, dem erscheint alles möglich. Wer auf die neue Schöpfung setzt, dem erscheint alles möglich. Die Welt ist dann keine feste Struktur, sondern eine Einladung zur Kreativität. Dieser Glaube macht den Horizont weit, und er lässt uns freier atmen. Es ist die Weite, die Jesus in seinen Gleichnissen und Geschichten vom Gottesreich auftut. (…)
Jesus ist eine starke Quelle der Ermutigung – und auch seine geheimen Verbündeten, die Poetinnen und Poeten. Mit ihren Bildern gehen sie dabei bis an die Grenzen dessen, was Sprache zu sagen vermag – und vielleicht darüber hinaus. «And for an everlasting roof the gambrels of the sky» (und als ewig währendes Dach die Giebel des Himmels) schreibt Emily Dickinson in diesem Gedicht. Was für ein Paradox! Das Wesen des Himmels ist doch, dass er kein Dach hat. Jedenfalls keinen Deckel. Und doch wird dort offenbar gebaut, Neues geschaffen, von Gott und Menschen. Vielleicht kann man sich ja die Giebel des Himmels und die Worte von Jesus als Skizzen dafür vorstellen, als feine Tuschzeichnungen, mit denen die Zukunft ihre Schatten auf unsere Gegenwart wirft.
Im Schlaf
Eines der erstaunlichsten Erlebnisse meiner Kindheit verbinde ich mit einem Traum. Ich weiss immer noch keine Erklärung dafür. Es war noch in der Primarschule, als ich ausgerechnet von einer Rechenaufgabe träumte. Die Aufgabe war ziemlich knifflig, doch es gelang mir, im Traum die Rechnung zu lösen, die ich vorher noch nie gesehen hatte. Es fiel mir nicht einmal besonders schwer. Die Lösung spielte sich mir einfach zu. Ich dachte am Morgen nicht weiter darüber nach – bis am nächsten Schultag genau diese schwierige Aufgabe in unserem Rechenbuch stand. Ich musste keinen Moment überlegen, ich hatte sie ja bereits durchgerechnet. Ich streckte auf und präsentierte das Ergebnis.
Tja, dem Seinen gibt’s der Herr im Schlaf. Ein Gelingen ohne Anstrengung. Davon kann man nur träumen, sagt man; aber vielleicht inspiriert uns gerade der Traum manchmal mehr als aller Fleiss. Der Schlaf, der uns sanft aus den ausgefahrenen Schienen des Wachseins heraushebt wie eine Spielzeuglokomotive. Und wir finden eine neue Welt.
Kein Wunder, wird in der Bibel so viel geträumt. Denn wenn sie ein grosses Thema hat, dann ist es das: die neue Welt, die neue Möglichkeit. Der schönste unter den Träumen der Bibel ist für mich der, den Jakob in Bet-El träumte: «Da stand eine Treppe auf der Erde, und ihre Spitze reichte bis an den Himmel. Und siehe, Boten Gottes stiegen auf ihr hinan und herab.» Als Jakob erwachte, sagte er: Das ist das Haus Gottes, und dies ist das Tor des Himmels. Und dieses Tor ist offen. Was für eine Erkenntnis dieser Traum gebracht hat! Was für ein Bild, was für eine Inspiration für alle, die später davon lesen werden!
Der Himmel ist nahegekommen. Und er ist für Gott und Mensch keine Einbahnstrasse mehr. Ue und abe, ue und abe steigen die Engel auf der Himmelstreppe. Der Künstler William Blake hat sie gemalt: eine Wendeltreppe mit Gegenverkehr, ein unendlich lebendiges, ein unendlich entspanntes Hinauf und Hinunter, ein ständiges Gespräch zwischen Himmel und Erde, zwischen Möglichkeit und Realität.
Dem Seinen gibt’s der Herr im Schlaf. Ja, manchmal stimmt das. Manchmal braucht es den Schlaf und den Traum, der löst von den Zwängen der Tagwelt, ihrer starren Konzepte; der löst auch von den Zwängen eines Glaubens, der Gott in weite Ferne rückt und ihn uns schroff entgegenstellt als den Übermächtigen, der nichts mit uns gemeinsam hat. Dem man sich, ohne zu fragen, unterwerfen muss, und gerade so doch nur die Machtstrukturen der Menschenwelt in den Himmel projiziert. (…)
Wir haben nun viel über Stephan Landis als Intellektuellen gesprochen. Wie ist er als Mensch?
Stephan kommt sehr bescheiden daher. Er hat diese unglaublich einnehmende Art, sich selbst auf die Schippe zu nehmen. Und noch etwas ist mir wichtig: Stephan war nicht nur ein guter Prediger, sondern auch ein guter Seelsorger. Er ist zu den Leuten hingegangen, hatte einen liebevollen Blick für sie. Obwohl er schon über ein Jahr weg ist, beten die Menschen der Gemeinde im Morgengebet nach wie vor eine Fürbitte für ihn.
Und wie war der eher verkopfte Landis im Umgang mit Jugendlichen?
Im Gegensatz zu mir, die in der Jugendarbeit mit Powerpoint und Whatsapp hantiert, stellte sich Stephan einfach hin und erzählte. Mit dieser vielleicht eher altertümlichen Art hat er viele Jugendliche beeindruckt. Ein Mädchen sagte mir einmal, man habe bei ihm gespürt, dass er ihnen das weitergeben wolle, was er selbst liebe. Gibt es ein grösseres Kompliment?
Landis gilt als besonnen. Haben Sie nie mit ihm gestritten?
Doch, und wie! Etwa beim Thema Abendmahl. Für ihn ist es ein Beispiel für die «erstarrte Lava» in der Kirche, wie er es im Buch nennt. Er sieht darin nichts Lebendiges, für ihn ist das nur Wiederholung, etwas Aufgesetztes. Ich versuchte immer wieder, ihn vom Gegenteil zu überzeugen, und appellierte an seinen Spielerinstinkt. Man muss ja nicht alles hochliturgisch machen. So kann man auch die Kinder dazu nehmen. Doch er blieb skeptisch.
Haben Sie eine Erklärung für seine Skepsis?
Wahrscheinlich kommt für ihn als liberalen Geist beim Abendmahl das Individuum zu kurz. Die Konstruktion einer Gemeinschaft, die miteinander unterwegs ist – das war ihm ziemlich suspekt. Für Stephan hat das, was bei jedem Einzelnen passiert, Vorrang.
Damit rührt er am Kern des Protestantismus: der Gemeinschaft.
Nein. Stephan lehnt ja nicht die Gemeinschaft per se ab. Es war nicht seine Art, die Provokation zu suchen. Er wusste, wann die Gemeinde ein Abendmahl erwartet, und hat es dann auch gefeiert.
In einer seiner Predigten sieht er Eva als eine frühe Figur der Aufklärung, die Verbote hinterfragt. Sein Adam dagegen ist stumpf und passiv. Ist Stephan Landis ein Feminist?
Aber sicher. Auch wenn er bestimmt kein Fan von einem solchen Label ist und sich nie so betitelt hat. Aber Stephans Predigt erinnert mich an die humorvolle, freche Art, mit denen Frauenrechtlerinnen in den USA bereits Ende des 19. Jahrhunderts die Adam-und-Eva-Geschichte gegen den Strich gelesen haben.
Landis ist ausgesprochen anglophil. Es fällt auf, dass er vor allem englische Autoren verehrt. Woher kommt diese Leidenschaft?
Ich weiss es nicht. Das Anglophile hat uns einfach verbunden. Wohl deshalb habe ich nie bei ihm nachgefragt. Ich habe selbst lange in den USA gelebt. Stephan liebte London und England. Manchmal haben wir darüber debattiert, aus welchem Land die spannenderen Impulse für die Theologie gekommen sind. Verbunden hat uns ausserdem die Liebe zur Literatur und zum Wort. Ich habe selber zu Sprachbildern und Gleichnissen geforscht. Wir konnten stundenlang darüber diskutieren.
Stephan Landis predigte auch zu Purcell und Bach. Hat er im Büro laut Musik gehört?
Das kann ich nicht sagen. Er arbeitete ja nicht im Gemeindehaus. Was ich aber weiss: Er hatte eine grosse Wertschätzung gegenüber Musik und auch gegenüber unserem Organisten. Spielte der besonders schön, sprach er immer wieder davon.
Was mögen Sie an Stephan Landis eigentlich am liebsten?
Ich glaube, neben seiner Liebe zur Lyrik, die wir teilen, ist es seine phantasievolle, liebevolle Art – und wie er Dinge auch stehen lassen kann. Wir haben seit vielen Jahren eine Taizé-Gruppe, die sich wöchentlich zum Singen und Beten trifft. Wer Stephan kennt, der weiss: Diese Art von Spiritualität ist nicht so Seines. Aber er merkte, wie wichtig diese Gemeinschaft für die Leute ist. Deswegen liess er sich darauf ein.
Also ein durch und durch offener Mensch.
Sehr. Stephan hat sich und die Menschen um ihn herum immer wieder im Denken und in ihren Gewissheiten herausgefordert. Allerdings erlebte ich ihn zuweilen etwas unsicher, ob er mit seiner Offenheit die Menschen nicht abschrecke. So fragte er sich, ob er unserer Gemeinde anspruchsvolle, vielleicht auch sperrige Bibelauslegungen zumuten könne, ohne am Ende einen frommen Zuspruch vorzutragen. Doch die Gemeinde hat dies nicht nur ausgehalten, sondern sogar sehr geschätzt. Zusammen ist uns klar geworden: Die Leute wollen von uns Pfarrerinnen und Pfarrern überrascht und nicht bevormundet werden. Ihr Horizont ist mindestens so weit wie unserer.
Raphael Rauch ist freier Journalist.
Der Fotograf Michel Gilgen lebt in Zürich.
Stephan Landis: Anderswohin. 13 Dienstreisen durch die Bibel. TVZ, Zürich 2019; 104 Seiten; 17.80 Franken.
Das im Textauszug «Die Stimme der Turteltaube» zitierte Gedicht Pied Beauty — Gefleckte Schönheit von Gerard Manley Hopkins stammt aus dem Band Gedichte, Reclam, Stuttgart 1973.