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Freitag, 17. Mai 2024

1.

Was ist «Das grosse Welttheater»?

Es ist ein Theaterstück aus dem 17. Jahrhundert. Zur Zeit des Barocks geschrieben und an Fronleichnam aufgeführt, zog es alle Register der damaligen Theatertechnik: blitzschnelle Wechsel aufwendiger Kulissen, bunte Beleuchtung oder Auf- und Flaschenzüge, um Darsteller erscheinen zu lassen. Der Autor, Pedro Calderón de la Barca, war Geistlicher am königlichen Hof Spaniens und schrieb für die gebildete Elite. Sein Text hat einen theologisch-philosophischen Hintergrund: Er handelt von der menschlichen Existenz auf Erden, der Mühsal im Leben und der Lebensbilanz im Jenseits.

2.

Lässt sich das noch etwas genauer beschreiben?

Im Kern geht es um den Sinn des Lebens und die Vorstellung einer göttlichen Regie. Eine der Figuren, der «Meister», erschafft die Erde – in diesem Zusammenhang ist es die Bühne. Eine Figur verkörpert die «Welt», sie installiert zwei Türen, die für Geburt und Tod stehen. Weitere Figuren treten auf, denen der «Meister» ihre Rollen gibt: der Reiche, der Bettler, die Schönheit, der Weise, die Nächstenliebe, der König, der Bauer und so weiter. Die Figuren treten durch die Tür der Geburt in die Mitte der Bühne, interagieren miteinander, wie es ihre Rollen verlangen, und treten durch die Tür des Todes wieder ab. Die «Welt» sammelt den Besitz der Gestorbenen ein und der «Meister» beurteilt, wie gut die Figuren ihre Rollen gespielt haben.

Zahlreiche Kinder wirken beim Stück mit. Regisseur Livio Andreina nahm auf sie während der Proben besonders Rücksicht. So versammelte er die Kinder beispielsweise, um sie auf besonders brutale Szenen vorzubereiten – etwa jene, in der arme Eltern ihre Kinder verkaufen.

3.

Das Stück ist 370 Jahre alt – weshalb sollen wir uns damit noch beschäftigen?

Weil es die existenziellen Fragen stellt. Das sagt Lukas Bärfuss, der für die diesjährige Inszenierung in Einsiedeln eine Neufassung geschrieben hat. «Welches ist meine Rolle im Leben? Wofür bin ich zu sterben bereit? Was ist ein gutes Leben? Diese Fragen sind ewig», meint Bärfuss.

4.

Was heisst hier Neufassung – weshalb ist das nötig?

Aus verschiedenen Gründen. So hat sich das Theater an sich gewandelt, wie Lukas Bärfuss erzählt: «Das ‹Welttheater› dauerte im 17. Jahrhundert eine Woche. Ein ganzer Landstrich wurde mit einem Fest überzogen. Es gab Theaterwagen, Masken, Feuerwerk und Tänzerinnen.» Heute ist eine Vorstellung an einem Abend erledigt. Hinzu kommt, dass das heutige Publikum den ursprünglichen Text von Calderón kaum mehr erfassen kann. Die Sprache ist veraltet und die Metaphern sind nicht mehr geläufig. Als eine Figur erfolglos versucht, die Rolle des Bauern abzulehnen, klingt das in der ersten deutschen Fassung so: «Wär’ hier Nein an rechter Stelle / Gleich wär’ ich damit zur Hand / Aber vor so feinem Grand’ / Fürcht’ ich, nützt mir’s gar nicht viel, / Und so bleib ich in dem Spiel / Wohl der schlechtste Komödiant. / Doch Ihr habt Erfahrenheit / Die den Hut misst nach dem Kopfe / Also auch mir armem Tropfe / Meine Dummheit wohl verzeiht. / Gebt ja jedem Schaf sein Kleid / Was sollt’ ich da lamentieren!»

5.

Welche Fassungen gibt es noch?

Der deutsche Romantiker Joseph von Eichendorff übersetzte als erster das Stück ins Deutsche. Lange wurde in Einsiedeln seine Fassung verwendet. Eine schweizerdeutsche Version von Dramatiker und «Hunkeler»-Autor Hansjörg Schneider scheiterte am Nein des Spielvolks. In den Jahren 2000 und 2007 wurde schliesslich eine Neufassung aufgeführt, die Thomas Hürlimann geschrieben hatte. Tim Krohn steuerte für 2013 eine Neuinterpretation bei, und nun präsentiert Lukas Bärfuss seinen Zugang zum Stoff.

6.

Was erwartet die Zuschauerinnen?

«In meinem Stück kommen alle Figuren aus dem ‹Welttheater› Calderóns vor. Auch die Fragen sind dieselben», sagt Bärfuss. Was anders ist: Zu Beginn des Stücks wird das «Welttheater» abgesagt. Kein Theater heute? Zwei Kinder, Emanuela und Pablo, bestehen auf der Vorstellung und müssen deshalb alle Rollen selber spielen: Bauer, König, Armer, Vernunft, Schönheit. Bärfuss: «Sie spielen und verwandeln sich dabei, werden älter, erwachsen, alt.»

Der Schriftsteller Lukas Bärfuss hat die neue Fassung des 370 Jahre alten Stücks «Das grosse Welttheater» geschrieben. Auch bei den Proben war er regelmässig in Einsiedeln zu Gast.

7.

Wieso sind Lukas Bärfuss und Regisseur Livio Andreina verantwortlich für die diesjährige Ausgabe?

Weil sie sich gemeinsam darum beworben haben. Ihr Konzept kam bei der Welttheatergesellschaft gut an; ihre Generalversammlung entschied sich 2017 für das Duo. Präsident Hanspeter James Kälin sagte damals gegenüber SRF: «Lukas Bärfuss ist ein sehr aktueller Autor, und Livio Andreina hat Erfahrung mit Freilichtspielen und grossen Gruppen von Laien.» Das Stück wäre 2020 bereit gewesen, doch die Pandemie verhinderte die Aufführung.

8.

Bärfuss ist ein streitbarer und gesellschaftskritischer Autor. Wie blickt er auf das Theaterprojekt im Schwyzer Klosterdorf?

«Das ‹Welttheater Einsiedeln› ist einzigartig», sagt Bärfuss. Es sprenge alle Dimensionen: personell, traditionell, inhaltlich. Die Produktionen seien wie ein gesellschaftlicher Chronometer, anhand dessen sich die Generationen erinnern und orientieren könnten. Bärfuss meint: «Die Hingabe der Teilnehmenden an das Welttheater ist unvergleichlich und hat utopischen Charakter: viele Menschen arbeiten gemeinsam an einer Sache, die niemand allein kontrolliert.»

Auch das Stoff-Lama macht Pause, während die Schauspieler ihr Mittagessen einnehmen.

9.

Wie lange wird denn «Das grosse Welttheater» schon in Einsiedeln aufgeführt?

Heuer sind es hundert Jahre. Ein künftiger ETH-Professor und der damals neue Abt des Klosters entwickelten 1924 die Idee. Im selben Jahr wurde Calderóns Stück zusammen mit Schauspielern aus Zürich und Laiendarstellern aus dem Dorf zum ersten Mal auf dem Klostervorplatz aufgeführt. Auch andernorts wurde «Das grosse Welttheater» vereinzelt gezeigt, aber nirgendwo entwickelte sich eine Tradition wie in Einsiedeln.

10.

In den hundert Jahren gab es sicherlich einmal Streit um das Stück?

Ja, die 68er Bewegung machte auch vor dem Klosterdorf nicht Halt. Aber weil das «Welttheater» in der Regel nur unregelmässig stattfindet, stellten die Aktivisten das Stück erst 1970 in Frage. Am Premierentag warf ein alternatives Theaterkollektiv den Organisatoren vor, Calderóns Text legitimiere die herrschenden Machtverhältnisse und stelle die sozialen Unterschiede zwischen Arm und Reich als gottgewollt dar. Dann führten die Aktivisten ein sozialkritisches «kleines Welttheater» auf, das eine Viertelstunde dauerte. Nach diesem Eklat wurde «Das grosse Welttheater» in Einsiedeln elf Jahre lang nicht mehr inszeniert.

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11.

Wie fand die Veranstaltung aus der Krise?

Fast nicht. In den 80er Jahren verlor das Publikum das Interesse. Der Eichendorff-Text zog kaum jemanden mehr nach Einsiedeln. Die Welttheatergesellschaft, die den Event organisiert, brauchte eine neue Idee. Der Vorstand um Hanspeter James Kälin beauftragte den Schriftsteller und ehemaligen Klosterschüler Thomas Hürlimann, ein zeitgemässes Stück zu schreiben. Einsiedeln bekam aktuelle Figuren, ein bisschen Satire und eine Prise Sozialkritik. Nach der Premiere hiess es in den Medien, Hürlimanns Fassung sei deftig, unverblümt und der Zweifel komme zum Zug. «Ultrakonservative Christen wehrten sich, das Kloster stand aber immer hinter uns», sagte Präsident Kälin später gegenüber dem «Beobachter». «Im Kern behandeln wir noch heute christliche Werte. Aber verständlicher. So, dass sie zum Denken anregen. Manchmal muss man sich von der Religion lösen, um sie den Menschen wieder näherzubringen.» Das Publikum belohnte das mit grossem Interesse.

12.

Das «Welttheater» ist eine Grossproduktion. Was bedeutet das finanziell?

Für das Freilichtspiel auf dem Klostervorplatz hat die Welttheatergesellschaft 4,85 Millionen Franken an Ausgaben budgetiert. Ein kleiner Teil wird durch private und öffentliche Zuwendungen gedeckt. 3,5 Millionen Franken soll der Ticketverkauf einbringen, mit Billetpreisen von 55 bis 135 Franken. Bei der ersten Durchführung vor hundert Jahren sah die Buchhaltung noch ganz anders aus: Man rechnete mit 11 000 Franken Aufwand und 12 000 Franken Einnahmen. Der günstigste Platz kostete damals einen Franken und der teuerste fünf.

Warten gehört zu den wichtigsten Eigenschaften, welche die Laienschauspieler mitbringen müssen: Schliesslich machen Hunderte Freiwillige mit. Das Equipment für den Auftritt bleibt dabei stets in Griffnähe.

13.

Das «Welttheater» hat in Einsiedeln einen grossen Rückhalt in der Bevölkerung. Die Beteiligten nennen sich das Spielvolk. Was ist das genau?

Das sind alle Menschen, die zum Gelingen der Aufführungen beitragen. Freiwillige aus Einsiedeln melden sich fürs Schauspiel, für die Chöre oder den Tanz. Gleichzeitig braucht es Hände beim Kulissenbau, den Kostümen und Requisiten oder der Technik. Das Spielvolk übernimmt auch die Platzanweisung oder die Kinderbetreuung. Bei den jüngsten Ausgaben des «Welttheaters» waren jeweils rund 600 Personen aus dem Spielvolk im Einsatz. Dieses Jahr treten zudem 1800 Kinder und Jugendliche im Rahmen einer Prozession auf.

14.

Und was ist mit dem Kloster?

Das Klostergebäude ist Teil der Kulisse, sein Vorplatz die Bühne. Die Geistlichen im Kloster müssen ihr Einverständnis geben für die Inszenierung. In einem Dokumentarfilm zu Hürlimanns Arbeit am Stück begleitet die Kamera den Autor zu einem Treffen mit dem Abt. Man sieht Hürlimann im Kloster in einem dunklen Gang vor einer schweren Holztür stehen und anklopfen, wie er es als 15jähriger Schüler der Klosterschule getan haben mag. Er präsentiert seinen Text erst so zurückhaltend, als gebe er einen Schulaufsatz ab. Dann redet er sich frei und überzeugt den Geistlichen von seiner Fassung, die den Charakter des «Welttheaters» in Einsiedeln nachhaltig verändern und weitere aktuelle Fassungen ermöglichen wird.

Das «Welttheater Einsiedeln» wird zwischen dem 11. Juni und dem 7. September 2024 insgesamt 36 Mal aufgeführt. Am 15. August wird das 100-Jahre-Jubiläum des Freilichttheaters mit einer Jubiläumsaufführung mit speziellem Vorprogramm gefeiert. Tickets und weitere Informationen: welttheatereinsiedeln.ch