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Autorin: Petra Bahr
Illustration: Jannis Pätzold
Freitag, 10. Juli 2020

Wir leben in religiösen Zeiten», murmelt der Mann ohne jeden Anlass in seine Maske und übergibt mir den desinfizierten Einkaufswagen. Der Satz hängt nun seit Tagen in der Luft wie ein Aerosol. Auf der Wiese vor dem Haus sitzen junge Leute auf Decken und feiern das Leben. Sie lassen Sektflaschen kreisen, als hätten sie noch nie etwas von Tröpfcheninfektionen gehört.

Ihr leichter Sinn täuscht. Der Wind treibt Satzfetzen ihrer Unterhaltung durch das Fenster. Sie reden über die leere Zeit, über das Studium im Ausland, das nicht begonnen werden kann, das Praktikum, das nicht stattfindet. Was, wenn nun doch nicht alles vorbei ist, wenn das Virus sie weiter in ihren Kinderzimmern gefangen hält, denen sie entwachsen sind? Lebensträume werden ausgetauscht, in der Vergangenheitsform. So sollten Siebzehnjährige nicht sprechen müssen. «Wohin sollen wir dann gehen?» fragt eine junge Frau, legt den Kopf in den Schoss der Freundin und guckt in den wolkenlosen Himmel.

In den Medien steht die Pandemie seit Tagen nur noch an zweiter Stelle. Ein Mann ist erstickt. Nicht an Covid-19, wie die anderen 130 000 in den USA, sondern an Polizeigewalt. Bilder wie im Bürgerkrieg, aus meiner Lieblingsstadt New York. Ein SUV fährt in eine Menschenmenge. In ihm sitzen die, die für Sicherheit sorgen wollen. Über Twitter kommen Gebete aus Minnesota, dem Ursprungsort des rassistischen Übergriffs.

Aus den Augen, aus dem Sinn

Lutherische und katholische, baptistische und presbyterianische Gemeinden beten gemeinsam dafür, dass die Gewalt nicht eskaliert und die Ungerechtigkeit ein Ende hat. Synagogen und Moscheen, Tempel und Kirchen werden zu Flucht­orten auf der Suche nach Erbarmen. Freunde beschreiben die Unruhe und die Verzweiflung, die über den Strassen liegen, die Wut und Angst, den Überdruck auch, der Ventile sucht und neue Gewalt erzeugt. Im Hintergrund sieht man die Krankenhäuser, die vor wenigen Wochen die Hauptdarsteller in den Bildern aus New York waren. Immer noch sterben hier vor allem «people of color» am Virus.

Die Pandemie macht nicht alle gleicher. Dieses Gerücht ist falsch. Das Virus wütet nun in Ländern, von denen Menschen in Deutschland und in der Schweiz nur wenige Bilder haben. Massengräber schieben sich in die Rubrik «Vermischtes aus aller Welt». Nur in den Statistiken tauchen diese Toten auf. Wie sie sterben, wie sie leben, wer weiss das schon? Aus den Augen, aus dem Sinn.

Andere Gerüchte wachsen sich zu Weltanschauungen aus. Ihre widersinnige Logik betört Hunderttausende. Die Pandemie gibt es gar nicht. Oder sie wurde in die Welt gesetzt, um Menschen zu versklaven. Mit Versatzstücken aus Science-Fiction, angereichert mit einer gehörigen Portion Antisemitismus, wird ein Glaube draus. Verschwörungsgeschichtenerzähler rufen nach Eingeweihten, nach Menschen, die sich nicht blenden lassen von dem, was vor Augen ist. Sie sollen tiefer blicken, die wahren Zusammenhänge verstehen, eine verschworene Gemeinschaft von Sehern und Prophetinnen. Ihre Wut des Verstehens schafft Eindeutigkeit. Die Dinge sind in Wahrheit ganz einfach, lernen sie. Das gibt Sicherheit. Und es befreit aus der Ohnmacht.

Wir leben in religiösen Zeiten. Köche werden zu Predigern ihres eigenen Evangeliums. Die Sehnsucht nach einem Sinn in der Jahrhundertkrise, die so jäh in aller Leben eingebrochen ist, ist gross. Das Bedürfnis, Schuldige zu finden, ist noch grös­ser. Ein jahrtausendealtes Ritual. So modern kann die Menschheit gar nicht sein, dass sie darauf nicht hereinfiele. Wer die Verursacher ausgemacht hat, kann sich entlasten von allem Zweifel, aller Ungewissheit, aller Zwiespältigkeit. Kameraaugen verschlingen gierig, was abstrus oder gefährlich ist, und vergrössern so die Reichweite dieser bösen Narrative. Der Wunsch nach einem Sinn hinter dem Ganzen verbindet sich mit politischen Umsturzträumen. Wir leben in religiösen Zeiten.

«Die Schuld werde ich nie wieder los», sagt die Frau, die ihre alte Mutter mit Covid-19 angesteckt hat.

«Die Schuld werde ich nie wieder los», sagt die Frau, die ihre alte Mutter mit Covid-19 angesteckt hat. Dabei weiss sie selbst bis heute nicht, wo sie sich angesteckt hat. Sie fährt nicht Ski und feiert keinen Karneval. Die Krankheit hat sie kaum gemerkt. Ihre Mutter hat es schwerer getroffen. Zum Glück wurde sie gesund. Deren Nachbar aber ist qualvoll erstickt.

«Wie kann ich mir das verzeihen?» fragt sie. Eine ihrer Töchter wird in der Schule gemobbt. Die Eltern der besten Freundin wollen nicht mehr, dass die Kinder miteinander spielen. Dabei liegt die Krankheit weit zurück. «Man weiss ja nie», sagen Nachbarn und meiden sie. «Als hätte ich die Pest.»

Die Ansteckungsverstrickung, die Virologen in Talkshows und Podcasts nüchtern beschreiben, erzählt die Pandemie anders. Eine Tragödie, in der Scham und Schuld und die Sehnsucht nach Freispruch im Alltag von Tag zu Tag wachsen. «Ich weiss, dass ich nichts dafür kann. Ich war immer vorsichtig. Trotzdem habe ich so viel Leid in die Welt gebracht.» Hiobzeit.

Büsserlisten für den Zorn Gottes

Jede Zeit hat ihre eigene Post. Die Briefe dieser Tage sind entweder verzweifelt oder zornig. Die einen mussten Abstandsgebote einhalten, während Angehörige gestorben sind. Kein Streicheln, kein geflüstertes Gebet, kein «Ich liebe dich». Wenn es gut lief, eine Nachricht über Facetime. Kalter Abschied, der bis in die Träume verfolgt. Die anderen verlangen Busspredigten. Der Zorn Gottes darf nicht ungehört verrauchen, fordern sie und liefern die Büsserlisten gleich mit. Es sind die üblichen Verdächtigen. Frauen mit und ohne Talar, gleichgeschlechtliche Paare, die liberale Demokratie, die keine Unterschiede macht, die die göttliche Ordnung der Familie nicht mehr anerkennt. Es gibt auch Briefe, die zu laut sind, zu gnadenlos, zu selbstsicher.

Manche Briefe sind leise. Sie erzählen nur von der Not. Eine Sozialarbeiterin hat seit Monaten keinen Kontakt mehr zu einer Vierzehnjährigen, die sich ritzt und vor ihrem grossen Bruder nicht sicher ist. Alte Eltern, die die Kraft verlässt bei der Betreuung des schwerbehinderten Sohnes. Eine junge Frau, die im Juni heiraten wollte. Ihr Mann ist Amerikaner. Sie hatte das Hochzeitskleid schon im Koffer, als die Grenzen schlossen.

Ein vielversprechendes Unternehmen, gegründet vor zwei Jahren von zwei Freunden. Die berufliche Perspektive für sechzig Menschen ist bedroht. Der finanzielle und seelische Zusammenbruch droht nun eine enge Freundschaft zu zerstören. Es sind die winzigen Einblicke in Lebensgeschichten, die daran erinnern, dass nicht alles gut ist, wenn die Pärke wieder voller werden. Die letzten Monate waren Wochen des abrupten Verzichts, der Überforderung, der Schmerzen und einer grossen Erschöpfung. Wir sind einander vieles schuldig geblieben. Wir werden auf Vergebung angewiesen sein. Das wird die eigentliche Probe des Zusammenhalts werden.

Gott ist kein Magier

Masken eignen sich nicht mehr als Metapher. Sie verbergen Gesichter und zwingen zu einer neuen Alphabetisierung im Lesen von Augenglanz und Stirnfalten. Das «Antlitz Gottes» trägt Tuch. Vielleicht ein Zeichen dafür, dass das Gegenüber so leicht nie zu lesen war. Das unbehagliche Gefühl, weil die Vertrautesten so fremd aussehen. Der Mund-Nasen-Schutz ist auch ein Symbol dafür, wie kompliziert es mit der Nächstenliebe geworden ist. Ich muss mich schützen, um die anderen zu schützen. Dazu das Mitdenken von Konjunktiven. Was wäre, wenn, auch wenn es so unwahrscheinlich ist? Eine Operation, die vielen zu anspruchsvoll ist. Dabei war Nächstenliebe immer schon anspruchsvoll. Bereits in der Bibel ist Liebe die anspruchsvollste Kunst des Glaubens überhaupt. Wer sie nun verkitscht und zu einem fluffigen Gefühl verkleinert, ­verfehlt ihre Pointe.

Wir leben in religiösen Zeiten. Die unbestimmte Aussicht auf ein Ende der Pandemie macht Angst. Deshalb bauen wir künstlich Fristen ein, Zeiten nahenden Heils. «Wenn ein Impfstoff kommt», heisst es dann und legt nahe, dass die Welt danach wieder wie vorher ist. Eine rhetorische Figur wie ein Ausrufezeichen. Dabei fangen die Fragen erst an. Wie unwahrscheinlich es ist, dass ein Impfstoff gefunden wird, der wirksam und verträglich ist für die, die ihn am dringendsten brauchen? Und wenn doch ein Impfstoff gefunden wird: Wer bekommt ihn zuerst? Die vermeintlichen Heilszeichen sind keine.

Pandemien haben keine Botschaften, aber die Menschheit könnte Einsichten über sich selbst sammeln.

«Jeder Patient ist ein Risikopatient», sagt ein Arzt, der gefragt wird, ob es nicht reiche, die Risikogruppen zu isolieren und zu schützen. Die Menschheit, eine Risikogruppe. So verletzlich, so leicht aus dem Tritt geplanter Biografien zu bringen, so leicht, Gesellschaften aus den selbstgezogenen Fugen zu reis­sen. Pandemien haben keine Botschaften, aber die Menschheit könnte Einsichten über sich selbst sammeln.

Die Versuche, so schnell wie möglich in die Welt von 2019 zurückzuwollen, haben etwas Kindlich-Trotziges. Wir könnten auch ein Risiko eingehen. Wir werden Risiken eingehen müssen. Warum nicht anders leben im Wissen um unser aller Vulnerabilität?

Leben in religiösen Zeiten. Existenzielle Fragen drängen in den Vordergrund. Das Leiden an der Uneindeutigkeit, ja der Abscheulichkeit der Welt kann der christliche Glaube niemandem ersparen. Dieses Leiden findet eine Sprache und eine Form. Vielleicht sind falsche Erwartungen an das Christentum Grund von mancherlei Zorn und Enttäuschung. Glaube ist keine Magie, die Kirche keine Resilienzagentur.

Nicht mal den ganz Frommen ist die Erfahrung des abwesenden Gottes erspart geblieben. Gott zeigt und verbirgt sich anders, als Menschen sich wünschen. Die christliche Existenz, das Gefühl des Gehaltenseins, ist kein heiteres Jenseits der Unsicherheit. Sie spielt sich mittendrin ab. Wir leben in religiösen Zeiten.