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Freitag, 25. Januar 2019

An einem kalten Wintertag treffen wir uns mit ­Johann Hinrich Claussen in Hamburg. Doch in dem Café ist es zu laut für unser Gespräch. Also gehen wir nach draussen. Dort ist es so kalt, dass sich nach einer Stunde das Notebook mit unseren Fragen abschaltet. Hin und wieder schauen uns zwei Frauen durch die Fensterscheibe mitleidig an.

Herr Claussen, Ihr neues Werk Buch der Flucht handelt von Flüchtlingsgeschichten in der Bibel. Warum blicken Sie so weit zurück, um eine Herausforderung unserer Zeit zu erklären?

Die globale Migration stellt die Frage nach dem Eigenen und dem Fremden. Das ist eine epochale Herausforderung. Deshalb lohnt sich ein frischer Blick in die Bibel: Sie ist das Grundbuch der abendländischen Kultur. Sie ist ausserdem ein Buch von Flüchtlingen für Flüchtlinge. Sie handelt über weite Teile von Vertriebenen, Deportierten, Migranten. Die Kernthemen sind Heimatsuche und Heimatverlust. Ich dachte: Vielleicht ist es gar nicht schlecht, das alles unserer aufgeregten Gesellschaft einmal zu zeigen.

Die Flüchtlingskrise von 2015 und ihre Folgen kommen in Ihrem Buch aber fast gar nicht vor. Warum haben Sie das ausgelassen?

Ich traue meinen Leserinnen und Lesern zu, selbst die Verknüpfung zwischen dem Gestern und dem Heute herzustellen. Ich wollte ein Bibelbuch schreiben, das einen anderen Blick auf die Gegenwart ermöglicht, aber nicht vorschreibt.

Trotzdem: Die Gegenwart auszublenden, ist das nicht etwas unpolitisch?

Das Buch ist unpolitisch-politisch. Beides. Es stellt die Bibel in unseren Kontext, vermeidet aber Kurzschlüsse. Ich möchte die Leser locken, sich existenziell mit dem Thema Flucht zu beschäftigen. Und das will ich erreichen, indem ich ihnen diese alten Bibelgeschichten neu erzähle. Was hätten Sie denn erwartet?

Klar, der Leser ist mündig. Aber wir leben heute in aufreibenden Zeiten. Muss man das nicht in einem Buch über Flucht abbilden?

Ich verstehe, was Sie meinen. Ich wollte aber ein leises Buch schreiben. Das hier ist nicht der Anti-Sarrazin. Und das finde ich auch legitim und richtig: Der Zeitgeist ist auf Krawall ­gebürstet. Da sollte die Kirche für Zonen der Ruhe und des ­vertieften Nachdenkens sorgen.

Glauben Sie, Ihre Leser hätten es sonst als erhobenen Zeigefinger verstanden? Wenn Flüchtlinge aus Syrien und Boote vorgekommen wären?

Man muss aufpassen mit Übersättigung. Ich erlebe das bei mir selbst: Was lese ich noch? Wann schalte ich ab? Man muss neue Wege ausprobieren, um für seine Prinzipien zu werben – und mein Buch ist ein Versuch.

Sie haben darin auf christliche Ikonografie verzichtet. Dafür zeigen Sie Fotos von Flüchtlingen — aus der Zeit von 1860 bis 1950.

Tizian und Rubens wären zeitlich zu weit weg gewesen. Aber ich wollte auch keine aktuellen Fotos aus dem zerstörten Palmyra zeigen: Das hat die Gefahr des Kurzschlüssigen. So, wie Sie gesagt haben: Manche fühlen sich dann bevormundet – Achtung, hier kommt der Pastor mit dem Zaunpfahl!

Auf einem Foto sehen wir einen alten Mann auf dem Deck des Schnelldampfers «Bremen». Es stammt aus den 1930er Jahren. Was sagt es uns?

Das ist ein ungeheures Bild, weil es so deutungsoffen ist. Zu sehen ist ein offenkundig jüdischer Auswanderer. Er hat ein Buch in der Hand, vielleicht die Bibel oder den Talmud, so würde ich das deuten. Er nimmt es mit auf seine Reise, es ist sein Wanderbuch. Der alte Mann schaut aber nicht hinein, sondern er schaut hinaus, auf den Horizont, dahin, wo er hinfährt. Dies ist für mich das wichtigste Foto im ganzen Buch, weil es zeigt, dass die Bibel ein Wanderbuch ist, das mitgenommen wurde. Ein Buch, in das die Erfahrung von ihm und vielen, vielen Vorfahren eingeschrieben ist. Ihr Glaube ist in der Heimatlosigkeit entstanden und musste sich in der Heimatlosigkeit bewähren. Und trotzdem ist die Zukunft dieses alten Mannes offen. Ich hoffe, er ist gut angekommen.

Warum ist die Bibel ein Wanderbuch?

Es geht um Heimatverlust. Aus diesem Gefühl heraus entstand das Alte Testament. Die Assyrer haben das israelische Nordreich vernichtet, die Babylonier das Südreich. Damit hatte Israel alles verloren, was vorher ein Volk, eine Religion, ein Gemeinwesen ausgemacht hat: König, Land, Tempel – alles weg. Und in diesem «Alles ist weg» machten die Israeliten religiöse Entdeckungen. Daraus entstand das Judentum. Das Christentum schrieb diese Geschichte weiter.

Inwiefern?

Auch am Anfang des Christentums steht ein Trauma: Der Messias, der das Reich Gottes bringen sollte, wurde gekreuzigt. Seine Jünger hatten alles aufgegeben, ihre Familien verlassen, ihre Fischernetze zurückgelassen. Sie hatten sich ganz auf seinen Weg eingelassen. Und dann: nichts. Ein radikaler Bruch. Aus dieser Erfahrung entsteht etwas ganz Neues, eine geistbewegte Gemeinschaft, die über alle Grenzen hinweg zur ersten globalen, religiösen Wanderungsbewegung wird.

Der Theologe und Autor Johann Hinrich Claussen, Jahrgang 1964, ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland. In Das Buch der Flucht zeigt er, welche historischen Erfahrungen von Zerstörung, Flucht und Exil den biblischen Texten zugrunde liegen. ms

Was haben die Fluchtgeschichten mit Ihnen gemacht?

Sie haben mich zur Ruhe genötigt – seltsamerweise. Gegen Ende des Schreibens hatte ich ziemlichen Zeitdruck, merkte aber: Das lässt sich jetzt nicht beschleunigen, weil biblische Texte ihr eigenes Zeitmass haben. Sich in dieser anderen Zeitlichkeit zu bewegen war eine wichtige Erfahrung für mich.

Welche Geschichte ist Ihnen besonders nahegekommen?

Die undramatischste, aber menschlichste Geschichte ist jene von Ruth. Sie handelt von einer elementaren Erfahrung, die Menschen im alten Orient immer wieder durchlebt haben: Hunger. Ruth geht mit ihrer Schwiegermutter ins nächste Land, so wie viele Menschen damals. Und das ist so hinreissend erzählt. Ruth ist keine Schutzsuchende, sie ist «nur» ein Wirtschaftsflüchtling. Dennoch wird genau sie zur Erbahnin Jesu.

Beschrieben ist auch ein Verhalten von Ruth, das wir heute anrüchig finden.

Sie verführt Boas. Dieses Detail ist in der Bibel sehr dezent, aber präzise beschrieben. Das wird meistens im Kindergottesdienst nicht so ausgeführt, aber es gehört natürlich zur Flucht und Migration dazu. Ruth riskiert grosse Schande – hätte Boas sie verstossen, hätte sie wohl für immer als Prostituierte geendet, wie es vielen Frauen heute passiert. Dass Boas Ruth heiratet, ist das eigentliche Happy End.

Und dann gibt es noch die abgründigen Geschichten …

Sie handeln von Gewalt und Hass, von massivsten Migrationskonflikten. Manche Passagen leiten Katastrophen – wie den Untergang Israels – aus einem göttlichen Zorngericht ab. Das ist sehr verstörend.

Wie erklären Sie sich das?

Es ist ein Versuch, das Trauma zu bewältigen. Die Menschen hatten einen radikalen Kontrollverlust erlebt. Indem sie sich selbst die Schuld geben, gewinnen sie ihre Handlungsfähigkeit zurück. Sie sagen sich: Wenn ich Busse tue und mich ändere, straft Gott mich nicht wieder. Ich habe mit Traumapsychologen darüber geredet: Die Übersetzung von Trauma in Schuld kann eine erste Bewältigungsstrategie sein. Aber man wünschte sich, dass sie nicht die einzige bliebe.

Funktioniert diese Logik auch umgekehrt? Dass wir unterschwellig denken: Irgendwas werden notleidende Menschen schon getan haben, dass sie ihre Situation verdienen.

Ja, diese Fremdzuschreibung hat es zum Beispiel bei der Aids-Epidemie gegeben: Ihr habt Aids, weil Gott euch für eure Sünde bestraft. Dieses Denken ist inhuman. Ich weiss nicht, aus welchen Ursachen einzelne Menschen zu Flüchtlingen werden. Aber dies darf bei der Lebensrettung keine Rolle spielen: Die Menschenwürde verpflichtet uns, jeden Menschen aus dem Wasser zu ­ziehen und vor dem Ertrinken zu retten. Egal, ob er schlechte Lebensentscheidungen getroffen haben mag oder nicht.

Woher kommt trotzdem unser Bedürfnis, einen Kausalzusammenhang herzustellen?

Vielleicht haben wir die magische Angst, von der Not des anderen angesteckt zu werden. Wenn wir die Notleidenden schuldig sprechen, schliessen wir die Möglichkeit aus, dass es uns selber treffen könnte.

Wir alle können zu Flüchtlingen werden.

Wenn man mit Deutschen im kleineren Kreis die Bibel liest, kommen unwillkürlich Flüchtlingsgeschichten. Da braucht man nur bis drei zu zählen: «Ich aber …», «Meine Grossmutter aber …», «Wir damals …», «Unsere Familienbibel haben wir gerettet ­damals». Plötzlich verwebt sich die Bibel mit der eigenen Familiengeschichte. Migration ist nicht nur das, was von aussen kommt – sondern es ist unser eigenes Thema.

Gibt es auch in Ihrer Familie Vertriebene?

Nein. In meiner Familie gab es problematische Kriegserlebnisse – aber nicht im Sinne von Flucht und Vertreibung.

Glauben Sie, Sie wären sonst ein anderer?

Bestimmt.

Warum?

Vor kurzem habe ich mich mit einer älteren Dame unterhalten. Eine Hamburgerin, der es richtig gut geht, 70 Jahre alt. Wir kamen auf das Thema Flucht zu sprechen, und plötzlich sagte sie: «Ich bin ein Flüchtlingskind.» Ich wollte erst sagen: Sie sind eine erwachsene Frau, Sie sind kein Kind! Und Sie sind nicht auf der Flucht, Sie sind seit über 60 Jahren hier. Aber in diesem Moment war sie es wieder: ein Kind auf der Flucht! Noch ein anderes Beispiel: Eine ältere Freundin erzählte mir, wie sie als Kind aus Breslau fliehen musste. Sie hatten ihre Sachen gepackt, standen im Flur, wollten los, da hielt der Vater, der eigentlich gar nicht fromm war, inne und sprach das Vaterunser. Dann sind sie gegangen. Sie haben die Tür zugemacht, aber nicht abgeschlossen. So etwas prägt.

Manche Deutsche lehnen Flüchtlinge ab, obwohl sie selbst nach dem Zweiten Weltkrieg aus ihren Regionen flüchten mussten. Wie passt das zusammen?

Vor vielen Jahren hat Hans Magnus Enzensberger einen klugen Essay geschrieben mit dem Titel Die grosse Wanderung. Er beginnt mit einer alltäglichen Szene: Ein einzelner Mensch hat einen ganzen Eisenbahnwaggon für sich. Kommt der zweite rein, reagiert der erste genervt. Kommt ein dritter rein, bilden die ersten beiden eine Front gegen den dritten. Und so weiter. Es ist wohl zu idealistisch gedacht, dass Menschen, nur weil sie selber eine Not erfahren haben, anderen in der Not helfen wollen.

Die nach dem Zweiten Weltkrieg Vertriebenen waren Deutsche, aber sie wurden trotzdem von den anderen Deutschen verachtet. Warum?

Die Vertriebenen waren auch Fremde. Sie kamen in konfessionell anders geprägte Regionen. Es gab massive Verteilungskonflikte. Fünf Familien quetschten sich in eine Wohnung; die Zimmer waren mit Decken und Handtüchern unterteilt. Das hält man eine gewisse Zeit aus – und dann fängt man an, sich zu streiten. Die Vertriebenen bekamen Entschädigungen vom Staat. Viel zu wenig. Doch die Einheimischen empörten sich – sie gingen ja leer aus.

Beobachten Sie solche Verteilungskämpfe auch heute?

Ja – bis zur Flüchtlingskrise hiess es sozialpolitisch immer: Der Sozialstaat ist zu teuer, es ist kein Geld da für arme Rentnerinnen, alleinerziehende Mütter, Arbeitslose. Aber für die Flüchtlinge ist es plötzlich vorhanden? Das ärgert viele Leute.

Spätestens in der Kölner Silvesternacht ist die Stimmung gekippt.

Ich glaube, dass die Deutschen sehr wohl bereit sind, sich für eine humane Zuwanderungs- und Flüchtlingspolitik einzusetzen. Aber nur, wenn sie das Gefühl haben, dass der Staat die Kontrolle nicht verloren hat.

«Ach, ich finde, man sollte als Pastor zu Regierenden immer eine gesunde Distanz wahren.»

Stehen Christen besonders in der Pflicht, zu helfen?

Ja, Barmherzigkeit und Nächstenliebe sind Teil unseres Glaubens.

 

Man könnte sagen: Na gut, die Flüchtlinge sind gekommen, sie dürfen hierbleiben — aber aus welcher Motivation heraus muss ich als Einheimischer überhaupt Interesse zeigen? Wenn der Staat hilft, bin ich ja auch vertreten.

Niemand wird hier gezwungen, Flüchtlingen zu helfen. Aber unsere Gesellschaft lebt davon, dass sich die Bürger engagieren. Dabei können sie wertvolle Erfahrungen sammeln, die ihnen sonst in ihrem behüteten, westdeutschen oder Schweizer Leben nicht gegeben werden.

Dann sind Sie ein Anhänger von Angela Merkels Flüchtlingspolitik?

Ach, ich finde, man sollte auch als Pastor zu Regierenden immer eine gesunde Distanz wahren. Die evangelische und die katholische Kirche haben den humanitären Impuls vom Sommer 2015 gegen viel Widerstand verteidigt: Es gab ja gute Gründe, die Grenze nicht zu schliessen. Trotzdem sehe ich manches kritisch an der deutschen Flüchtlingspolitik.

Rudern Sie etwa von der Willkommenskultur zurück?

Auf keinen Fall! Trotzdem finde ich: Der Sommer 2015 ist weder angemessen vorbereitet noch nachbereitet worden. Es reicht nicht, zu sagen: Das ist gut und das machen wir jetzt. Man muss auch einen Plan haben. Und über den muss man streiten dürfen. Das heisst aber nicht, dass wir von unserem humanitären Kern abrücken. In Fragen des Kirchenasyls oder des Familiennachzugs stellen wir uns auch in den Gegenwind, wenn es sein muss.

Hat die evangelische Kirche 2015 auch Fehler gemacht?

Bestimmt, wir waren ja alle überwältigt. Übrigens: ich habe manche Übertreibung eher bei nichtkirchlichen Menschen erlebt.

Woran liegt das?

Das Thema Flucht beschäftigt uns als Kirche seit langer Zeit. Mir kam es so vor, als hätten viele erst im August 2015 gemerkt: Huch, da gibt es ein Problem. Für viele war die Flüchtlingskrise eine überwältigende Erfahrung. Wir haben diese Notlage zusammen gut gemeistert. Und darauf sollten wir stolz sein.

Aber?

Gelegentlich wurden wir auch bedrängt.

Von wem?

Etwa von Journalisten: Wir sollten alle Gemeindehäuser für Flüchtlinge öffnen. Wir sollten die Kirchenmusik einstellen und stattdessen unsere Mittel ganz in die Flüchtlingshilfe geben. Noch ein Beispiel: Es gab eine Berliner Freikirche, die sehr viele Flüchtlinge getauft hat. Das haben uns Journalisten vorgehalten: «Langweilige Landeskirche, warum tauft ihr nicht? Ist doch eine super Gelegenheit!» Aber wir wollen nichts überstürzen. Wir taufen diejenigen, mit denen uns eine Geschichte verbindet. Anderthalb Jahre später hatte der Kollege von der Freikirche übrigens grossen Ärger, weil er den falschen Eindruck vermittelt hat: Wer getauft ist, wird nicht abgeschoben.

Manche Protestanten haben sich über den Tonfall der Kirche in der Flüchtlingsfrage geärgert, den sie moralisierend fanden. Hat man es versäumt, diese Menschen mitzunehmen?

Den Eindruck einer moralischen Überwältigung oder autoritären Zurechtweisung hatte ich nicht.

Heinrich Bedford-Strohm hat 2017 selbst gesagt, die Vermittlung der kirchlichen Position — gemeint war wohl der humanitäre Impuls — sei nur sehr bedingt, bei manchen gar nicht gelungen.

Daran sehen Sie ja: Er verkündigt nicht einfach moralische Prinzipien. Er denkt selbstkritisch darüber nach, wie wir uns verständigen können. Wir als Kirche werden manchmal von rechts aussen zum Teil der gesellschaftsbeherrschenden Elite erklärt. Das finde ich zwar sehr tröstlich (lacht), meine Lebenserfahrung sagt mir aber etwas anderes: Wir stehen oft am Rand. Trotzdem müssen wir versuchen, ins Gespräch zu kommen und unsere Prinzipien zu vertreten. Insofern finde ich solche Überlegungen, wie wir den rechten Ton treffen, wichtig.

Aber was gibt es denn da zu vermitteln? Ist die christliche Botschaft nicht total eindeutig?

Was meinen Sie mit total eindeutig?

Barmherzigkeit, Nächstenliebe …

Ja, das ist eindeutig. Ich war im Sommer in einem Regionalzug als Einziger Nicht-Nazi, weil eine ganze Truppe zu einem rechten Musikfestival fuhr. Das war brutal. Da war ich stolz und froh, dass die Landesbischöfin bei der entsprechenden Gegendemo dabei war.

Jüdischer Auswanderer an Deck des Schnelldampfers «Bremen» in den 1930er Jahren.

Kann ein Rechtspopulist ein Christ sein?

Ich halte nichts davon, Menschen, die man nicht kennt, ihr Christsein abzusprechen. Ich nehme mir aber das Recht, in meinen Augen falsche Positionen zu kritisieren. Manchmal löst das ein Nachdenken aus, manchmal auch nicht. Dann geht man unversöhnt auseinander.

Wo ziehen Sie die rote Linie?

Zum Beispiel bei der Islamkritik. Es gibt eine legitime und auch notwendige Kritik am Islamismus. Die Linie ist dann für mich überschritten, wenn einer Bevölkerungsgruppe in toto grundsätzlich und für immer abgesprochen wird, dass sie sich verändern kann. Das ist menschenverachtend, führt zur dauerhaften Ausgrenzung und oft genug zu Gewalt. Da muss ich sagen: Das ist falsch, das ist inhuman. Wer solche menschenverachtenden Parolen von sich gibt, stösst bei mir auf Ablehnung. Da kann er sich ruhig in die Opferrolle begeben, wie es manche von der AfD gerne machen.

Trotzdem reden Sie mit der AfD?

Die AfD hat ein Potenzial von etwa zwanzig Prozent der Bevölkerung. Diese Menschen werden hierbleiben, die gehen nicht weg. Man muss sich mit ihnen auseinandersetzen.

Der Evangelische Kirchentag hat da eine ganz andere Position.

Die meisten Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich gesprochen habe, finden das in dieser proklamatorischen Art nicht sinnvoll.

Sie haben neulich Ihre erste AfD-Debatte geführt. Wie war das für Sie?

Anstrengend. Es ging im Gespräch mit zwei Bundestagsabgeordneten der AfD um die Frage, was Kultur zur Integration beitragen kann. Das verlief kontrovers, aber zivil. Es war ja nur eine Veranstaltung mit siebzig Besuchern. Nachher bin ich noch eine Stunde dageblieben und habe mit vielen geredet. Es war eine wichtige Erfahrung, sich ihnen körperlich zu stellen und nicht über sie zu lesen oder zu schreiben. Mit ihnen in einem Raum zu sein.

In der Diskussion ging es sicher auch um Flüchtlinge …

Na klar! Mir ist aufgefallen, dass die AfD zwar eine deutsche Identität substanzhafter Art beschwört, fragt man aber nach, worin sie denn besteht, kommt nichts – ausser der Auskunft: Wir bereiten da ein Papier vor. Die AfD ist nicht einheitlich: Die einen Anhänger sind konservativ-katholisch, die anderen kommen aus Thüringen und haben mit dem Christentum nichts am Hut. Um ihre inhaltliche Leere zu überspielen, nehmen sie die aggressive Abkürzung. Und sagen: Deutsch ist nicht Islam. Damit machen sie es sich sehr einfach.

Haben Sie das Gefühl, irgendwas erreicht zu haben?

Nein, das glaube ich nicht.

«Grenzen sind nicht immer nur schrecklich oder böse – sie sind auch Orte der Erkenntnis.»

Was hat es dann überhaupt gebracht?

Es reicht nicht, zu sagen: Ich bin auf der guten Seite – man muss dafür auch kämpfen.

Glauben Sie, dass Sie grundsätzlich auf der guten Seite stehen?

Natürlich nicht. Dafür habe ich zu viele Fragen an die eigene Position. Aber grundsätzlich würde ich sagen: Als evangelischer Theologe setze ich mich für eine christliche Humanität ein.

Was heisst das?

Christliche Menschenfreundlichkeit, also eine Verbindung von grundlegenden Impulsen der christlichen Liebesethik mit einer modernen Menschenrechtskultur.

Müssten Sie da nicht für offene Grenzen sein?

Ich weiss gar nicht, was das sein soll – offene Grenzen! Ich bin sicherlich nicht für Abschottung und Mauern. Aber es gibt definierte staatliche Territorien. Das ist auch nicht schlimm, sondern das sind die Solidaritätskontexte, in denen wir uns bewegen. Die kann man Land nennen, die kann man Nation nennen, das ist mir ganz egal. Die fangen irgendwo an, und die hören irgendwo auf. Und die haben innerhalb ihres Gebiets bestimmte Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten. Ich finde: Grenzen sind nicht immer nur schrecklich und böse. Die Grenze ist ein Ort der Erkenntnis.

Aber Ihr Buch zeigt: Territorialräume sind nicht in Stein gemeisselt.

In biblischen Zeiten gab es keine Grenzen im heutigen Sinne, sondern Loyalitätsverhältnisse. Mir heute dagegen ist Staatlichkeit ein hohes Gut. Ich will nicht in Lehns- oder in Clanverhältnissen leben, sondern in einem Staat, in dem Bürger Rechte und Pflichten haben. Zu dem Gedanken des Staates gehört jedoch, dass er sich nicht unendlich ausdehnt. Sehr viele Menschen in Afrika warten auf die Möglichkeit, hierherzukommen. Das kann ich aus deren Perspektive gut verstehen. Aber eine ungesteuerte Einwanderung würde uns überfordern. Ausserdem haben wir Ansprüche und Standards: Menschen, die zu uns kommen, müssen irgendwo wohnen, die Kinder müssen zur Schule gehen, es muss eine ärztliche Versorgung geben. Ab einer gewissen Zahl an Flüchtlingen können wir das nicht mehr gewährleisten.

Und gleichzeitig zementiert man so die historisch-willkürliche Ordnung der Welt. Muss man das einfach aushalten?

Na ja, man muss vieles aushalten, was man nicht verändern kann. Und historische Gegebenheiten gehören dazu.

Trotzdem sehen wir Bilder von ertrunkenen Flüchtlingskindern. Machen wir uns da nicht mitschuldig?

Wir machen uns bestimmt mitschuldig. Für vieles haben wir auch noch keine gute Lösung. Aber es gibt doch sinnvolle Schritte, die man tun kann – etwa ein vernünftiges Einwanderungsrecht zu schaffen. Wir müssen nicht nur aushalten, wir können auch verändern.

2015 wurde mit der Nützlichkeit der Flüchtlinge argumentiert: Die Flüchtlinge werden unser Sozial­system retten, die Flüchtlinge werden unsere Alten pflegen. Hätte man nicht eher sagen müssen: Hier geht es um Barmherzigkeit, nicht um Nützlichkeit?

Nachher ist man immer schlauer. Es war ja gut gemeint. Aber blosse Nützlichkeitsversprechen sind immer problematisch.

Und was ist mit Mitleid? In Ihrem Buch kritisieren Sie die Ökonomisierung des Mitleids durch Flüchtlings­organisationen.

Ich kritisiere das nicht, sondern nehme das wahr. Der grosse Unterschied zwischen der Bibel damals und dem Leben heute ist: Jesus hat Nächstenliebe geübt mit jenen, die ihm sozusagen vor die Füsse fielen. Kam er in ein Dorf, wurden ihm die Kranken gebracht. Er musste nicht drüber nachdenken, welche Kranken es etwa noch in Ägypten gibt. Heute wird uns medial die ganze Welt gezeigt. Das ist manipulierbar: Aus der Katastrophenhilfe ist altbekannt, dass man nur Spenden bekommt, wenn man die entsprechenden Bilder etwa von Kindern zeigt. Aber es gibt Gegenden, da ist alles grün und es gibt trotzdem Hunger. Deshalb haben wir als Kirche die Aufgabe, uns von einem oberflächlichen Charity-Betrieb fernzuhalten.

Wurde in der Flüchtlingskrise zu sehr ans Mitleid appelliert?

Das weiss ich nicht. Ich erinnere mich nur daran, dass das Mitleid relativ schnell aufgehört hat. Mitleid ist ein spontanes Gefühl: Ich sehe etwas, das mich berührt. Ich spüre den Schmerz des anderen als meinen eigenen und werde aktiv, helfe ihm. Die Gefahr bei der medialen Vermittlung ist, dass wir dieses Gefühl nicht mehr direkt wahrnehmen, sondern nur eine kurze Aufwallung haben. Diese Aufwallung hat keinen sozialen Körper, sie vergeht. Deshalb ist Mitleid allein, so wichtig und schön dieses Gefühl ist, nicht ausreichend.

In Ihrem Buch beschreiben Sie das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Darin spielt Mitleid eine zentrale positive Rolle.

Mitleid ist ein wunderbares Gefühl. Aber es kann, wenn man nicht aufpasst, auch etwas Herablassendes haben. Man schreibt dem anderen einen Opfer-und-Notleidenden-Status zu: Ich gewähre dir etwas, bin aber heimlich froh, wenn du nicht ganz zu mir hochkommst. Dieses Gefälle kann zu einer subtilen Herrschaft werden, ebenso wie das Zählen auf genehme Reaktionen: leuchtende Kinderaugen, Dankbarkeit. Das nimmt dem Geholfenen die Möglichkeit, sich als freies Individuum zu verstehen, die eigenen Kräfte wiederzuentdecken und selbst tätig zu werden. Ich finde sowieso: Es darf beim Helfen nicht nur um positive Gefühle und gute Absichten gehen. Auch das Ergebnis ist wichtig. Wir sind aufgerufen, eine Balance zu finden aus Nächstenliebe und Nüchternheit, Besonnenheit und Barmherzigkeit.

Das klingt, als wären Sie ein Anhänger der Verantwortungsethik.

Wenn sie nicht nur so kalt und nüchtern daherkommt wie von Helmut Schmidt gepredigt, finde ich eine christliche Verantwortungsethik sehr gut. Heinrich Bedford-Strohm hat das so auf den Punkt gebracht: Es braucht eine Balance aus Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Blosse Verantwortungsethik ist nicht viel mehr als Politik-Technokratie. Und eine Gesinnungsethik, die sich darauf beschränkt, hehre Prinzipien zu formulieren, ist im Grunde narzisstisch. Es geht um die rechte Balance.

Was würde der barmherzige Samariter dazu sagen?

Ich habe erst beim Schreiben meines Buches entdeckt, wie pragmatisch er ist: Er schnackt nicht lange, sondern packt an. Er erledigt die notwendigen Handgriffe ruhig und leise. Dann muss er weiterziehen. Er beendet das Engagement, sorgt aber dafür, dass der Überfallene nicht ins Leere fällt. Er wartet nicht auf Dankbarkeit. Das finde ich gut. Weil es so uneitel ist.

Oliver Demont ist Redaktionsleiter bei bref.
Merle Schmalenbach ist stellvertretende Redaktionsleiterin bei Christ & Welt, den Extraseiten der ZEIT für Glaube, Geist und Gesellschaft.
Die Fotografin Bettina Theuerkauf lebt in Hamburg.

Johann Hinrich Claussen: Das Buch der Flucht. Die Bibel in 40 Stationen. C. H. Beck, München 2018; 332 Seiten, 25 Euro.