Am 20. Juli 1944 beugt sich Adolf Hitler in seinem Hauptquartier «Wolfsschanze» über einen Massivholztisch mit Karten. Darunter liegt eine Bombe, platziert von Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Als sie um 12.42 Uhr explodiert, sterben der Stenograf Heinrich Berger und drei weitere Militärs. Hitler überlebt. Seit 1942 wollte Hitler, dass seine Dienstbesprechungen mitgeschrieben werden.
Als einer der besten Stenografen des Landes kam Berger so in die Wolfsschanze. Er starb mit 39 Jahren. Claus Schenk Graf von Stauffenberg war Oberst der Wehrmacht. Noch in der Nacht nach dem Attentat wurden er und mehrere Mitverschwörer in Berlin erschossen. Stauffenberg wurde 36 Jahre alt. Im vergangenen Jahr haben sich die Enkelin von Stauffenberg, Sophie von Bechtolsheim, und die Tochter des Stenografen, Dorothea Johst, kennengelernt.
«Im Hinblick auf das Attentat kann ich nicht von Schuld reden. Es war eine zwingende Notwendigkeit, dass versucht wurde, den Gräueln des NS-Regimes und dem Krieg ein Ende zu setzen.» Dorothea Johst
Frau Bechtolsheim, warum haben Sie vor einem Jahr den Kontakt zur Tochter des Stenografen der Wolfsschanze gesucht?
Sophie von Bechtolsheim Eine Freundin von mir und ein Leser meines Buches über meinen Grossvater Claus Schenk Graf von Stauffenberg haben mich unabhängig voneinander auf Frau Johst aufmerksam gemacht. Ich brauchte diese Impulse, um auf sie zuzugehen. Dann habe ich ihr eine E-Mail geschrieben.
Was hat Sie angetrieben, Frau Johst dann auch tatsächlich zu schreiben?
Von Bechtolsheim Mit dem Tyrannenmord an Hitler, geplant von meinem Grossvater Claus Schenk Graf von Stauffenberg, hatte ich mich theoretisch beschäftigt. Das Dilemma des Tyrannenmords ist: Darf man das wirklich tun? Sich schuldig machen, um grössere Katastrophen abzuwenden? In der Theorie war mir klar: Ja, man darf. Als ich dann von Frau Johst hörte, bekam die ganze Sache plötzlich ein Gesicht. Die Frage stand im Raum, was das wirklich bedeutet, wenn nicht der Tyrann, sondern andere Menschen sterben. Frau Johsts Vater kam ums Leben, weil mein Grossvater den für Hitler bestimmten Sprengsatz zündete.

Die zerstörte Baracke, in der Stauffenbergs Bombe explodierte. Hitler überlebte leicht verletzt.
Frau Johst, wie war das für Sie, als Sie eine E-Mail von einer Stauffenberg-Enkelin im Posteingang fanden?
Dorothea Johst Dass jemand von der Familie Stauffenberg auf uns aufmerksam wurde, hat mich sehr berührt. Mein Vater
war immer eine Randfigur des 20. Juli, aber er ist an diesem Tag ums Leben gekommen. Er war kein Parteimitglied, kein Soldat. Es gab vereinzelte Zeitungsartikel, die an ihn erinnerten. Aber sonst eigentlich nichts. Darum habe ich mich gefreut über den Kontakt.
Warum haben Sie sich gefreut?
Johst Die Kontaktaufnahme von Frau Bechtolsheim und auch die Tatsache, dass wir so gut miteinander zurechtkommen, war eine Anerkennung meines Vaters, seiner Lebensgeschichte und der Geschichte meiner Familie. Das hat gutgetan.
Von Bechtolsheim Mir war es ein Anliegen, Frau Johsts Vater Heinrich Berger aus der verschämten Nichtbeachtung herauszuholen.
«Mein Grossvater hat den Tod von Frau Johsts Vater verursacht. Diesen Mann hätte es nicht treffen sollen. Er war kein Militär, nicht in der NSDAP, ein gläubiger Christ.» Sophie von Bechtolsheim
Wie sind Sie aufeinander zugegangen?
Von Bechtolsheim Frau Johst hat gleich zurückgeschrieben und in der E-Mail Fotos vom Grab ihrer Eltern geschickt. Da stand dann das Todesdatum von Heinrich Berger, der 20. Juli 1944. Auf einmal stand da auf einem Grabstein dieses vertraute Datum, an dem mein Grossvater den Tod eines Menschen verursachte, den es eigentlich nicht treffen sollte. Das hat mich umgehauen.
Johst Und mich hat der Einblick in ihre Familiengeschichte bewegt. Wie schwierig es für die Ehefrau von Stauffenberg war, nach der Exekution ihres Mannes mit ihren fünf Kindern weiterzuleben. Dieses Schicksal hat mich berührt. Ihre Grossmutter hat ebenso gelitten wie meine Mutter. Eigentlich gleichen sich unsere Familienschicksale.
Warum hat Sie das Bild vom Grabstein so getroffen, Frau Bechtolsheim?
Von Bechtolsheim Mein Grossvater hat den Tod dieses Mannes verursacht. Und diesen Mann hätte es nicht treffen sollen. Er war kein Militär, nicht in der NSDAP, ein gläubiger Christ. Alle vier Todesopfer hätte es nicht treffen sollen. Es sollte Hitler treffen, den Tyrannen. Aber den traf es nicht.
Wann sind Sie einander zum ersten Mal persönlich begegnet?
Von Bechtolsheim Das war im Januar 2020. Ich hatte eine Lesung in Erfurt, wo Frau Johst wohnt. Als wir uns begegneten, war es sofort herzlich und ganz ohne Small Talk. Es fühlte sich an, als würden wir uns schon lange kennen. Zudem hatte sie zuvor geschrieben, dass sie mit den Ereignissen des 20. Juli nicht hadert. Das hat es für mich einfacher gemacht. Und ich habe Sie auch noch warten lassen! Erinnern Sie sich, Frau Johst?
Johst Das macht doch nichts. Im Hinblick auf den 20. Juli kann ich überhaupt nicht von Schuld reden. Es war eine zwingende Notwendigkeit, dass versucht wurde, den Gräueln des NS-Regimes und dem Krieg ein Ende zu setzen. Hitler musste gestoppt werden. Leider ist der Versuch missglückt. Wie viele Menschenleben haben Krieg und Nazi-Regime gekostet?
Ihr Vater kam dabei auch ums Leben.
Johst Ja. Aber viele andere Familien und Menschen haben auch gelitten, überall. Es ist unverzeihlich, dass man das auch heute noch zu leugnen versucht. Mich erschreckt, dass das Nazi-Gedankengut heute wieder aufkommt.
Das Attentat auf Hitler war also richtig, obwohl Ihr Vater dabei starb?
Johst Absolut.
Von Bechtolsheim Ich bin zutiefst dankbar, dass Sie das so sehen. Auch ich bin überzeugt, dass es notwendig war. Es geht mir nicht darum, die Ehre meiner Familie zu retten. Ich möchte vielmehr auf die Bedeutung des Umsturzversuches, in den so viele verschiedene Menschen involviert waren, aufmerksam machen. Dietrich Bonhoeffer hatte 1933 gesagt: «Wir müssen dem Rad in die Speichen fallen.» Auf die Theorie muss also die Handlung folgen. Dass Frau Johst das auch so sieht, entlastet mich sehr.
Inwiefern?
Von Bechtolsheim Mich beschäftigt die NS-Zeit seit meiner Kindheit. Um die Geschichte meines Grossvaters habe ich erst einmal einen Bogen gemacht, weil mir schwante, dass das sehr komplex ist. Der 20. Juli wirft Menschheitsfragen auf: Wer und wozu bin ich auf der Welt? Was kann ich tun? Wie kann ich Unrecht rechtzeitig erkennen? Wäre ich bereit, Gefahren in Kauf zu nehmen, um gegen Unrecht anzugehen, oder gehe ich mit der Herde mit? Und da stösst man automatisch auf die Frage der Schuld und der Verantwortung. Die Masterarbeit in meiner Ausbildung zur Mediatorin handelt sogar davon. Und darum entlastet es mich zu wissen, dass auch für Frau Johst die Ereignisse vor 77 Jahren notwendig waren.
Frau Johst, wie deuten Sie eigentlich den 20. Juli 1944?
Johst Das war ein Signal an die Welt, dass nicht alle Deutschen hinter Hitler stehen. Es gab ein inneres Bemühen, sich gegen das Regime aufzulehnen. Und dass dieser Versuch vom Militär ausging, war auch von grosser Bedeutung. Eine grosse Anzahl Menschen war bei den Vorbereitungen involviert. Da mitzumachen war gefährlich und erforderte Mut, standen doch zum Zeitpunkt des Attentats noch immer die Hälfte der Deutschen stramm hinter Hitler. Dass es danebenging, war Schicksal. Stauffenberg und viele andere hat es bekanntlich das Leben gekostet.
Von Bechtolsheim Die letzten Hinrichtungen mit Bezug auf das Attentat passierten im April 1945. Die Rolle meines Grossvaters wird derzeit aber auch kritisch gesehen.
«Ich bin Frau Johst nicht mit der Absicht begegnet, mich zu versöhnen. Ich kann gar nicht um Verzeihung bitten für etwas, was ich selbst nicht getan habe.» Sophie von Bechtolsheim
Warum?
Von Bechtolsheim Es wird ihm der Vorwurf gemacht, er habe sich nicht von Beginn an von der Nazi-Ideologie distanziert. Dabei war es extrem wichtig, dass der Versuch, dem Regime ein Ende zu setzen, aus Deutschland heraus kam. Wie wäre es heute, den Angehörigen der Verfolgten zu begegnen, wenn keiner es gewagt hätte, Hitler zu töten?
Frau Johst, was hat der Verlust des Vaters mit Ihrer Familie gemacht?
Johst Als mein Vater starb, da war ich gerade zwei Jahre alt, mein Bruder neun. Meine Mutter hat nach einer ersten Phase der Verzweiflung das Schicksal angenommen. Es blieb ihr wie so vielen anderen Familien im Krieg auch nichts anderes übrig. In dieser Zeit wurde mein Bruder immer mehr zu ihrem Beschützer und arbeitete zeitweise sogar als Stenograf. Er musste über Nacht erwachsen werden und hat als Heranwachsender die unendliche Traurigkeit und das Zerbrechen meiner Mutter bei vollem Bewusstsein miterlebt. Das alles hat ihn überfordert. Er zog sich immer mehr zurück. Die vergangenen Jahrzehnte hatten wir so gut wie keinen Kontakt. Letztes Jahr ist er gestorben.
Wie haben Sie Ihre Mutter erlebt? War sie stolz auf ihren Mann?
Johst Ja, das war sie. Sie hat mir viel von ihm erzählt. Der 20. Juli war aber nicht oft Thema. Wir haben noch einige stenografische Dokumente von ihm. Zum Beispiel hatte er Schillers «Glocke» auf einer ganz kleinen Fläche stenografiert. Das akkurate Schriftbild zu sehen, macht mich stolz. Es ist das Erbe meines Vaters und steht dafür, dass er so ein kluger Mensch war und für die Familie gesorgt hat.
Ihr Vater war ursprünglich Jurist.
Johst Seine Doktorarbeit hatte er zum Thema «Ehrenwort» verfasst. Leider ist sie nicht mehr auffindbar. Seine humanistischen Gedanken passten den Nazis nicht, deswegen konnte und wollte er nach der Machtergreifung nicht mehr als Jurist tätig sein. Und so wurde er Stenograf.
Haben Sie sich jemals die Frage gestellt, ob Ihr Vater als Hitlers Stenograf auch eine Rolle im NS-System gespielt hat?
Johst Ja, sogar oft. Ich bin ja in der DDR aufgewachsen und musste mich immer wieder fragen: Wie verhalte ich mich in einer Diktatur? Meine Mutter hat mir erzählt, dass mein Vater sehr deprimiert war über das, was er wusste. Er hatte aber auch drei Schwestern und eine Familie mit Kindern. Mein Vater versuchte, seine Situation im Gebet zu lösen. – Aber ja, er hätte vielleicht auch sagen können, dass er da nicht mehr mitmacht. Sie sehen: Das ist eine sehr schwierige Frage.
Wie gehen die Mitglieder der Familie Stauffenberg mit den Ereignissen von damals um? Herrscht da Einigkeit?
Von Bechtolsheim Im Grossen und Ganzen ja. In meinem Buch über meinen Grossvater haben sich viele wiedergefunden. Aber ich bin nicht die Pressesprecherin der Stauffenbergs. Uns alle hat sehr geprägt, wie meine Grossmutter mit der Geschichte des 20. Juli umgegangen ist. Also auch mit ihrer eigenen Geschichte, ihren Erlebnissen und wie sie ihre Kinder erzogen hat – und wie die dann wieder uns Enkel erzogen haben.
Worin besteht Einigkeit innerhalb der Familie?
Von Bechtolsheim Darin, dass wir nicht die Nachkommenschaft in den Mittelpunkt unseres Denkens und Tuns stellen wollen. Meine Grossmutter wusste, dass der Name Stauffenberg eine Herausforderung ist. Sie sprach von ihrem Mann als Mensch mit seinen Schwächen und nicht wie von einem unerreichbaren Helden. Darf ich noch etwas hinzufügen?
Bitte sehr.
Von Bechtolsheim Als mich Frau Johst in Erfurt durch die Stadt geführt hat, habe ich sie als eine unglaublich geschichtsbewusste Frau kennengelernt. Das hat mich an meine 2006 verstorbene Grossmutter erinnert. Zu wissen, dass wir Menschen in das Räderwerk der Geschichte geraten können, ohne etwas dafürzukönnen, ist eine grosse Weisheit. Geschichte kann Familiäres komplett überlagern. Es ist eine grosse Fähigkeit, von der Metaebene aus das eigene Schicksal zu betrachten. Nicht viele Menschen können das. Frau Johst schon.
War Ihre Begegung auch eine Art Versöhnung zwischen der Tochter des Opfers und der Enkelin des Attentäters?
Johst Ich erinnere mich daran, dass bei unserem Abschied in Erfurt das Wort «Versöhnung» fiel. Ich weiss nicht mehr genau in welchem Zusammenhang, aber ich habe das Wort benutzt. Mehrfach sogar …
Von Bechtolsheim … und das hat mich ins Herz getroffen. Dabei bin ich Frau Johst nicht mit der Absicht begegnet, mich zu versöhnen. Ich kann ja auch gar nicht um Verzeihung bitten für etwas, was ich selbst nicht getan habe.
Sondern?
Von Bechtolsheim Ich wollte mit Frau Johst in Verbindung treten. Als sie das Wort «Versöhnung» beim Abschied in den Mund nahm, wurde mir die Dimension unserer Begegnung klar. Dabei habe ich den Kontext akustisch nicht einmal verstanden. Aber das Wort und der Moment waren für mich so wertvoll, dass ich nicht nachfragen wollte.

Dorothea Johst auf den Schultern ihres Vaters Heinrich Berger.
Warum haben Sie von Versöhnung gesprochen, Frau Johst?
Johst Frau Bechtolsheim hat recht, wenn sie sagt, dass sich die Tochter des Opfers und die Enkelin des Verantwortlichen nicht versöhnen können, weil sie ja in keinem direkten Konflikt stehen. Was ich keinesfalls will: dass über Generationen hinweg Argwohn gehegt wird. Die Geschichte trennt uns nicht. Das Wort «Versöhnung» kam einfach so aus mir heraus. Es kam aus dem Herzen. Da gibt es keinen Hintergedanken und kein Ärgernis. Ich wollte einfach sagen, dass alles in Ordnung ist.
Sie sind beide Christinnen. Gelingt Versöhnung als gläubiger Mensch einfacher?
Johst Meine Eltern haben sich in der Kirche kennengelernt, und ich bin mit christlichen Werten aufgewachsen. Diese haben mir geholfen, den Tod meines Vaters zu bewältigen. Ebenso spielt in meinem Leben die Nächstenliebe eine wichtige Rolle. Ich glaube, mit Frau Bechtolsheim war es auch deshalb sofort so vertraulich, weil sie über einen ähnlichen Hintergrund verfügt.
Von Bechtolsheim Das kann ich bestätigen. Unsere Vertrautheit hat sicherlich auch damit zu tun, dass wir an den einen selben Gott glauben und die gleiche Vorstellung von einem christlichen Leben haben. Frau Johst als Protestantin und ich als Katholikin.
«Mein Vater versuchte, seine Rolle in Hitlers System im Gebet zu lösen. – Aber ja, er hätte vielleicht auch sagen können, dass er da nicht mehr mitmacht. Sie sehen: Das ist eine sehr schwierige Frage.» Dorothea Johst
Was braucht es Ihrer Ansicht nach, damit Versöhnung gelingen kann?
Johst Aus meiner Familie weiss ich, wie schwer Versöhnung sein kann. Sie gelingt nicht immer, denn nicht immer besteht die Möglichkeit zum Gespräch. Manchmal braucht es einen Vermittler. Aber selbst dieser hilft nicht in jedem Fall weiter. Zum Glück brauchten Frau Bechtolsheim und ich keinen! Das ist ein Geschenk.
Von Bechtolsheim Das Entscheidende ist, dass es überhaupt zu einer Begegnung kommt und man einander dann ohne Vorurteile zuhören kann.
Um anzuerkennen, was war.
Von Bechtolsheim Genau. Dabei nimmt man den anderen so wahr, wie er ist: in seiner Würde, in seinem Menschsein und seiner Berechtigung, auf dieser Welt zu sein. Es ist eine sehr gesamtheitliche Sicht auf das Gegenüber. Erst dann kann Versöhnung stattfinden.
Johst Das kann ich nur bekräftigen. Wer anderen Menschen unvoreingenommen begegnet, ihnen offen zuhört und sie als wertvolle Mitmenschen erkennt, hat bereits die Konfliktlösung in Gang gesetzt.
Julius Müller-Meiningen ist freier Korrespondent in Rom.
Die Fotografin Nora Klein lebt in Erfurt.
Sophie von Bechtolsheim: «Stauffenberg. Folgen: Zwölf Begegnungen mit der Geschichte». Herder, Freiburg im Breisgau 2021; 224 Seiten; 23.90 Franken.