Alek Fester wuchs als russisch-orthodoxer Christ in Long Island auf. Dann verlor er seinen Glauben. In Basel hat er ihn wiedergefunden. Wegen der Reformierten.
Alek Fester hat eine «Dummheit» begangen, so bezeichnet er die Ereignisse vor zwei Jahren. Über das Geschehene zu sprechen fällt ihm auch heute noch nicht ganz leicht. Er tut es trotzdem, an diesem Karfreitag auf der Terrasse der reformierten Tituskirche im Basler Bruderholz. Fester bittet darum, die genauen Umstände der «Dummheit» nicht zu ausführlich beschreiben zu müssen.
Er bereue, was passiert sei. Nüchtern betrachtet lässt sich das, was Fester widerfahren ist, mit einer späten Jugendsünde beschreiben. Eine, die folgenreich war. Während er erzählt, springt eine Katze auf seinen Schoss. Fester hält ihr zur Begrüssung behutsam die Finger unter die Nase. «Na, was machst du denn hier, Sweetie?»
Er sei damals ins Universitätsspital Basel eingeliefert worden, erzählt er. Es war knapp. Nach einem Tag wird er entlassen. Obwohl er nun zuhause ist und sich hier eigentlich sicher fühlen müsste, ist es, als würde er an einem Abgrund stehen. Er beschliesst, ins Basler Münster zu gehen. Die Mittagsandacht läuft noch, als er sich in die Kirchenbank setzt. Dann beginnt er zu weinen. Er weiss: So kann es nicht weitergehen. Etwas muss sich ändern.
Tage später wählt Alek Fester die Nummer eines Pfarrers, dem er vertraut, denn er ist ebenfalls schwul. Dem Pfarrer sagt er, dass er sich einer Kirchgemeinde anschliessen wolle, die liberal sei. Ob er einen Tipp habe?
Seit ein paar Jahren schon hatte Fester das Gefühl, dass ihm etwas fehlte. Da war eine Sehnsucht, nach Transzendenz, nach etwas Göttlichem, und ja, auch nach einer Gemeinschaft, in der er sich für all diese Gefühle nicht erklären müsste. Die Stunden im Spital sind der Auslöser für den Weg, der vor ihm steht. Und nun sitzt er auf der Terrasse einer Kirche und soll einem Journalisten erklären, warum ausgerechnet am Ende dieses Weges die Reformierten stehen. Wo fängt man da an zu erzählen?
Vielleicht am besten dort, wo alles begann: Alek Fester kam in Chicago als Sohn eines russisch-orthodoxen Priesters auf die Welt. Mit seiner Mutter und seinem jüngeren Bruder bildete er ein Gespann, das dem Vater folgte. Sie seien häufig umgezogen, von Gemeinde zu Gemeinde. Wohin es ging, bestimmte die Kirche. Nach Chicago lebten sie eine Zeit in Los Angeles, dann einige Jahre in Missouri, bis sie schliesslich nach Long Island kamen. Die Halbinsel vor New York ist bekannt für seine berühmten Bewohner. Alek war da neun Jahre alt.
«Als Sohn eines Priesters gibt es kein Leben vor oder nach der Religion. Es gibt nur ein Leben mit der Religion.» Alek Fester
In Alek Festers Leben hat es nie ein Erweckungserlebnis gegeben. Konnte es auch nicht. Fester sagt: «Als Sohn eines Priesters gibt es kein Leben vor oder nach der Religion. Es gibt nur ein Leben mit der Religion.» Erinnert er sich an sein Heranwachsen in der russisch-orthodoxen Kirche, dann sind da zwar viele langweilige Gottesdienststunden, aber auch zauberhafte Momente. Ihm als Kind gefiel die Musik, aber auch das Wiederkehrende der Liturgie. Heute nennt er all das, was in diesen Jahren mit ihm in der Kirche geschah, sein Fundament.
Feierte die Familie Fester ihren Glauben, dann war das nicht zu trennen von der russisch-orthodoxen Kirche vor Ort. An Ostersamstag, kurz vor Mitternacht, zogen sie jedes Jahr mit ihrer Gemeinde aus der Kapelle aus, die Priester voran. Langsam bewegte sich der Prozessionszug um das Gotteshaus, es roch nach Weihrauch, die Gemeinschaft war umgeben von warmem Kerzenlicht, sie sangen.
Mitternachts dann der Ruf: «Christus ist auferstanden.» Die Priester tauschten ihre schwarzen Gewänder gegen die weissen. Und als sie alle wieder in die Kirche hereinkamen, war alles anders. Der Raum – hell erleuchtet, Hunderte Kerzen brannten, überall Blumen. Nach der Eucharistie das Fastenbrechen. An den Tischen wurde das Fleisch gereicht und Wein eingeschenkt. Die Festers mittendrin.

Alek Fester
Die Liberalen vom Bruderholz
Ohne Turm und Solardach könnte die Tituskirche auf dem Basler Bruderholz auch eine der verschachtelten Villen sein, von denen in der Nachbarschaft ein paar stehen. Es ist Karfreitag. Eineinhalb Stunden vor dem Gespräch mit dem Journalisten trifft Alek Fester im Foyer der Kirchgemeinde auf die Pfarrerin Monika Widmer. Die beiden scheinen sich zu kennen.
Im Kirchenraum nimmt Fester in einer der hinteren Reihen Platz. Die Sitzordnung gleicht jener im Ständerat, nur dass das Rednerpult die Kanzel ist. Das Dach aus Holz läuft in einem Rund auf weisse Mauern zu. Das Kreuz an der Wand zeigt zugleich einen Kelch. Wo man sitzt, sitzt man auf Kirschbaumholz.
Orgelmusik ertönt. Der Geiger, in Rollkragenpullover und mit Lackschuhen, spielt Bach. Die Predigt handelt von der Gewalt an Jesus und von der Gewalt an heute am gesellschaftlichen Rand stehenden Menschen. Ein Thema, mit dem sich auch bereits der italienische Philosoph Giorgio Agamben beschäftigt habe.
Noch im Gottesdienst wird die Pfarrerin dem Vikar für seine Predigt Respekt zollen, und auch Fester ist von den Gedanken angetan. Kluge Theologie einfach vorgetragen, ohne dabei ins Simple zu kippen, das könnten nicht viele.
Nach dem Gottesdienst auf der Kirchenterrasse. Alek Fester erzählt von seiner Zeit als Jugendlicher auf Long Island. Auf sein Comingout mit 16 hätten seine Eltern gelassen reagiert. Alles andere hätte ihn aber auch überrascht: «Meine Familie ist so queer!» Seine Cousine sei lesbisch und sein Onkel habe die Transition zum weiblichen Geschlecht vollzogen – mit der Familie Fester an seiner Seite.
Alek Festers Eltern gelang das, woran viele scheitern: die Kinder frei von eigenen Erwartungen in die Welt zu entlassen. Das war auch in Fragen des Glaubens so.
Alek Festers Eltern gelang das, woran viele scheitern: die Kinder frei von eigenen Erwartungen in die Welt zu entlassen. Das war auch in Fragen des Glaubens so. Denn diese stellten sich für Alek immer drängender: Warum gibt es keine Priesterinnen? Warum dürfen Frauen nicht das Evangelium verkünden? Und wieso sollten Schwule und Lesben nicht auch in der Kirche heiraten dürfen?
Als ein Priester in einem Gottesdienst erklärt, warum es richtig sei, Frauen die Abtreibung zu verbieten, sei er vor versammelter Gemeinde aus der Kirche gelaufen, sagt Alek. Je weiter er sich von seiner Kirche entfernte, umso mehr fragte er sich, wie seine Eltern es in ihr aushalten konnten. Sie, die wohl auch dafür gesorgt hätten, dass verletzende Äusserungen von Kirchenmitgliedern zur seiner Homosexualität gar nicht erst bis zu ihm gelangten.
Die Antwort seiner Mutter müsse für reformierte Ohren verrückt klingen, sagt Fester. Sie sei doch nicht in der Kirche wegen der Predigten, antwortete sie. Die habe sie nie sonderlich wichtig gefunden. Gehalten habe sie die Liturgie. Dort konnte sie Gott nah sein.
Als Erwachsener kommt Alek Fester diese Sichtweise abhanden. Mehr noch: Sie ist ihm fremd. Er hatte das Elternhaus in Long Island verlassen und besuchte das Liberal Arts College in New York. Mit der russisch-orthodoxen Kirche hatte er bis auf familiäre Verpflichtungen kaum noch Berührungspunkte. Dafür feierte er in New York das pralle Leben. «Diese hedonistische Zeit tat mir gut.» Disziplin zeigte er bei seiner Leidenschaft, der Musik. Er träumte von einer Karriere als Musiker in der Alten Welt.
Als Bub lernte Alek das Oboenspiel und sang im Chor der russisch-orthodoxen Kirche. Als er mit 19 in einem Konzert einen Barockoboisten Bach interpretieren hörte, war es um ihn geschehen. Dieses Instrument wollte er auch spielen können. An seinem College nahm er Unterricht. 2009 der Sprung nach Europa. Er schaffte die Aufnahme an Paul Sachers Schola Cantorum Basiliensis in Basel, lernte hier seinen späteren Ehemann kennen und schloss sich nach seinem Studium dem Barockorchester Capriccio an.
Seine Auftritte führten ihn immer wieder auch in reformierte Kirchen. Irgendwann setzte er sich sogar hinein, ohne zu spielen. War gerade Gottesdienst, dann hörte er zu, auch wenn er nicht alles verstand. Alek Fester besucht nun die Kirche regelmässig. Einmal nimmt er sogar am Abendmahl teil. Sein Ehemann begegnet den Glaubensexkursionen skeptisch. Für ihn waren Menschen, die an Gott glaubten – nett ausgedrückt – naiv, sagt Fester.
Es ist einen Monat nach seinem Spitalaustritt. Alek Fester besucht den Gottesdienst der Titusgemeinde. Als er am Ende die Kirche verlassen will, steht die Pfarrerin Monika Widmer vor ihm. Sie stellt ihm eine einfache Frage: «Und wer bist du?» Fester erinnert sich, dass ihn die direkte Ansprache verdutzt habe.
An ihre erste Begegnung mit ihm könne sie sich noch gut erinnern, sagt Monika Widmer. «Ich habe schnell gemerkt, dass Alek eine Gemeinschaft sucht.» Sie habe ihn gleich zur Meditation eingeladen, erzählt Fester. Er folgte der Einladung der Pfarrerin und besuchte die Meditationen. Später liess er sich auf eigenen Wunsch hin von ihr in Glaubensfragen begleiten. Mehrere Monate lang tauschte er sich mit Monika Widmer über Bibeltexte, Theologie und den Glauben mit all den Zweifeln aus. Hier habe er gespürt, welche Kraft in der reformierten Unmittelbarkeit zu Gott liege. Dass Gott sich nicht wie in seiner früheren Kirche hinter einer Schar Heiliger verstecken müsse und dadurch übergross, ja fast majestätisch werde. «Gott ist da. Ich fühle mich ihm nahe, auf Augenhöhe.»
Der Ton zwischen ihm und seinem Ehemann wurde immer rauer. Manchmal hätten sie stundenlang über Religion und seinen Glauben gestritten. Am Ende ging die Partnerschaft in die Brüche. Alek Fester wollte sich nicht mehr für seinen Glauben rechtfertigen müssen.
Eine Trennung schafft Freiheit
Es gibt aber noch einen anderen Grund, weshalb er sich mit seinem Glauben auseinandersetzen wollte: Der Ton zwischen ihm und seinem Ehemann wurde immer rauer. Manchmal hätten sie stundenlang über Religion und seinen Glauben gestritten, erinnert er sich. Er fühlt sich seinem Mann immer wieder argumentativ unterlegen. «Mit meiner theologischen Auseinandersetzung wollte ich ihm endlich etwas entgegensetzen können.» Die Konfrontationen hielten trotzdem an – und setzten ihm zu. Von seinem Glauben führten sie ihn aber nicht weg. Im Gegenteil. Am Ende ging die Partnerschaft in die Brüche. Fester wollte sich nicht mehr für seinen Glauben rechtfertigen müssen. Seinen früheren Ehemann habe er aber immer noch gern, sagt er.

Alek Fester
Einige Tage nach Ostern trifft ein E-Mail von Alek Fester in unserer Redaktion ein. Er wolle noch einen Gedanken mitteilen, der nicht zur Sprache gekommen sei. Nicht der Wechsel von der orthodoxen zur reformierten Konfession sei für ihn entscheidend gewesen, sondern sich hinzustellen und zu sagen, dass er glaube. «Das war wie zweites Comingout vor meinen Freundinnen und Freunden.» Er wollte nicht, dass sie ihn missverstehen und zu den Christen zählen, die eine Theologie der Enge und Strenge vertreten. Das Gegenteil sei der Fall: In seiner Gemeinde sei er umgeben von Menschen, für die der Glaube nur zusammen mit dem Zweifel zu haben sei.
In der Tituskirche fand Alek Fester nicht nur Gott, sondern auch eine Gemeinschaft. Bei einem Bibelkreis sei er mit Waldtraut Mehrhof ins Gespräch gekommen. Sie hätten sich gleich auf Anhieb verstanden und im Anschluss miteinander ein Glas Rotwein getrunken. In der Zwischenzeit habe sich eine gute Freundschaft entwickelt. Der Altersunterschied von fast vierzig Jahren sei für sie mittlerweile nur Thema, wenn andere das zum Thema machten. Sie hätten viel gemeinsam.
Vor einigen Monaten reiste Alek Fester für eine Auszeit in ein Kloster. Dort angekommen, jätete er im Garten, führte Gespräche mit Brüdern und meditierte. Am Ende stand seine Entscheidung fest: Er wird an der Universität Basel reformierte Theologie studieren. In einem Bewerbungsverfahren ist er vorher als Quereinsteiger zu einem verkürzten Studium zugelassen worden.
Als er sich damals auf das Gespräch vorbereitete, nahm er einen Zettel und schrieb: «Ich will ein Pfarrer sein, der Räume schafft, in denen sich Menschen spirituell entfalten können.» Eine koptische Ikone soll ihn immer daran erinnern. Sie steht in seiner Stube und zeigt Jesus Christus, der dem heiligen Menas den Arm um die Schultern legt. Gott ist nahe. Es ist das, was Fester bei den Reformierten lernte.
Tom Kroll ist Redaktor bei bref.
Der Fotograf Kostas Maros lebt in Basel.